Dortmund. Das Derby ist diesmal nur eine lästige Notwendigkeit. Ohne Fans fehlt ihm die Seele. Eine persönliche Betrachtung - mit wehmütigen Erinnerungen.
Sky hat wirklich an alles gedacht. Der Bezahlsender bietet seinen Kunden an, sich bei der Wiederaufnahme des Spielbetriebs der Bundesliga Normalität vorgaukeln zu lassen. Es gibt eine zusätzliche Tonspur mit Fangesängen und Fanreaktionen. Obwohl keine Fans im Stadion sind. Bitte, wer’s mag – bei „King of Queens“ oder „Two and a half men“ werden die Lacher ja auch eingespielt.
Aber: Wie nennt sich diese Veranstaltung dann? Soll das noch Fußball sein?
Solche Fragen gehen einem in diesen Tagen durch den Kopf. Im Ruhrgebiet ist Derbyzeit, normalerweise die Zeit, in der in der gesamten Woche zuvor das Smartphone vibriert, weil in den WhatsApp-Gruppen gefrotzelt wird. Diesmal aber: nichts. Wohin man auch hört – sogar das Derby wird jetzt eher als lästige Notwendigkeit angesehen, wenn nicht gar gänzlich abgelehnt.
Die Fans sind sich doch so ähnlich
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Das Revierderby, das muss ich gestehen, wirkt auf mich auch nach vielen Jahren noch wie Pflaumenkuchen auf Wespen. Revierderby, das ist Leidenschaft, hier wie dort. Das sind Duelle, in denen es immer um etwas geht, unabhängig vom Tabellenstand. BVB-Fans und Schalke-Fans, das werden beide Seiten nicht hören oder lesen wollen, sind sich nämlich so herrlich ähnlich in ihrer emotionalen Verbundenheit zu ihrem Klub und in der Art, diese Liebe zu zelebrieren. Wer als Fußball-Anhänger keine Vorfreude auf Ereignisse wie ein Derby kennt, der übernachtet im Kühlschrank.
So egal wie dieses aber war mir noch keines zuvor.
Vor einem halben Jahr war ich noch richtig verärgert darüber, dass ich nach vielen Jahren mal wieder ein Derby verpasst habe. Urlaub früh geplant und gebucht, später machtlos den Spielplan zur Kenntnis genommen – wenigstens endete dieses Hinspiel im Herbst auf Schalke 0:0, da hatte ich immerhin das Gefühl, nichts verpasst zu haben.
Der Anfang: 1976 hinter dem Tor im Westfalenstadion
Auch an diesem Samstag werde ich nicht im Stadion sein. Es zieht mich auch nichts hin. Die Zahl der Arbeitsplätze für Medienvertreter ist streng begrenzt, nur einer unserer Reporter darf vor Ort sein. So wird die Saison vergehen, ohne dass ich ein Derby sah. Sonderbar.
Keine Ahnung, wie viele dieser oft denkwürdigen Duelle ich schon miterlebt habe. Ich erinnere mich noch an mein erstes, es endete 2:2. Mit meinen Freunden stand ich 1976 im Westfalenstadion direkt hinter dem Tor – hinter Enver Maric, dem jugoslawischen Star-Keeper der Schalker, und hinter Horst Bertram, dem Aufstiegstorhüter der Dortmunder. Das kann man ja heute kaum noch glauben: Der BVB war gerade erst wieder in die Bundesliga aufgestiegen – nach vier Jahren Zweitklassigkeit. Das neue Westfalenstadion, ein Schmuckstück im Vergleich zu all den damals als modern geltenden Betonschüsseln, war im April 1974 pünktlich vor der Weltmeisterschaft eingeweiht worden – mit einem Revierderby in Freundschaft, das Schalke 04 mit 3:0 gewann. Der Bundesligist verzichtete auf eine Gage, weil es dem BVB finanziell dreckig ging. Auch diese Hilfe in der Not ist aus Sicht von heute: eine Schnurre.
1983 war das Parkstadion nur zur Hälfte gefüllt
Noch 1983 fand ein Derby im Parkstadion statt, bei dem sich gerade mal 35.000 Zuschauer verloren. Für manche Vereine wäre das eine stolze Zahl, aber hier bedeutete sie: Die Hälfte der Plätze blieb unbesetzt. Dass Rüdiger Abramczik, ein Junge mit königsblauem Blut, beide Treffer zum Dortmunder 2:1-Sieg schoss, sagte auch vieles aus. Denn die Schalker hatten ihn drei Jahre zuvor in finanzieller Not verkaufen müssen. Der Wind hatte sich gedreht im Revier: In den Achtzigern stieg Schalke gleich dreimal ab.
Die heute bekannte ausgeprägte Rivalität entwickelte sich erst ab Mitte der Neunziger. Es gab aber auch ein Derby der Gemeinsamkeit, 1997, als die um ihre Arbeitsplätze bangenden Bergleute auf die Straßen gingen und „Ruhrpott“-Rufe durch die Stadien hallten: Michael Zorc entschied es zugunsten der Borussia. Wenige Wochen danach gewann erst Schalke den Uefa-Cup, dann der BVB die Champions League, das Revier war im Rausch. Ruhrpott, Ruhrpott.
Faszinierende Erlebnisse ab Mitte der Neunziger
So viele Erinnerungen, so viel Faszination. Oft auch mit Typen verbunden. Mit Jens Lehmann zum Beispiel, dem späteren BVB-Torwart, der 1997 für Schalke spektakulär per Kopf traf: zum 2:2 in Dortmund, in der 90. Minute. Oder mit Andreas Möller, der sich als Seitenwechsler beim sensationellen Schalker 4:0 in Dortmund im Jahr 2000 erstmals Anerkennung bei den Schalke-Fans verschaffte. Hochemotional auch der 2:0-Triumph der Schwarz-Gelben 2007, mit dem sie
den Blau-Weißen am 33. Spieltag die Meisterfeier verdarben. 2008 dann das Derby-Debüt von Jürgen Klopp: Sein BVB lag 0:3 zurück, am Ende hieß es 3:3.
Und jetzt: das Coronaderby - ein Geisterspiel
Das verrückteste Derby war aber auch das noch lange nicht. Unübertroffen: das 4:4 im November 2017. Der BVB berauschte sich in der ersten Halbzeit an seinem 4:0-Vorsprung, einige Gäste-Fans flüchteten völlig frustriert. Sie verpassten ein sensationelles Comeback, das im Ausgleich durch Naldo gipfelte.
All das fällt mir ein, wenn ich an das Revierderby denke. Und jetzt: das Coronaderby. Ein Geisterspiel, schauderhaft. Wem diese Art Fußball reicht, dem gefällt es auch, wenn ihm im Restaurant ein leerer Teller serviert wird. Derby ohne Zuschauer, das ist wie Kino ohne Leinwand, wie Auto ohne Reifen, wie Asterix ohne Obelix. Dieses seelenlose Spiel findet statt, weil die Liga um Existenzen bangt. Weil mit hohen Verbindlichkeiten belastete Vereine wie Schalke 04 in dieser Zeit von nackter Angst getrieben werden. Die Alternative, ein Saisonabbruch, lässt sich leicht fordern, wenn eigene Arbeitsplätze davon nicht bedroht sind wie die von tausenden Vereinsmitarbeitern.
Das Ruhrgebietsderby, das an diesem Samstag in Dortmund gespielt wird, ist gewiss das seltsamste der Geschichte. Ich bin mir sicher: Das überflüssigste ist es nicht.