Essen. Weniger hoffnungsvoller Nachwuchs, größere Konkurrenz in Europa: Mit der neuen Akademie sollen Spieler und Trainer besser ausgebildet werden.

Die Geschichte macht Stefan Kuntz immer noch fassungslos. Er sei zu Besuch im Nachwuchsleistungszentrum eines Bundesligisten gewesen, erzählt der DFB-U21-Nationaltrainer. Dort gebe es einen sehr talentierten Nachwuchsspieler, der aber nicht kritisiert werden dürfe. Sonst würde er sofort den Verein wechseln. „So einer rennt doch irgendwann gegen die Wand“, sagt der 57-Jährige. Es ist ein extremes Beispiel – aber nur eines von vielen, das zeigt, dass etwas schief läuft im deutschen Nachwuchsfußball.

Oliver Bierhoff, der für die Nationalmannschaft zuständige Direktor beim Deutschen Fußball-Bund, warnt: „Bis zur Euro 2024 sind wir noch gut aufgestellt, die Jahrgänge 95 bis 99 sind stark.“ Danach aber drohe eine Delle. „Es gibt klare Anzeichen, dass wir uns massiv bewegen müssen“, mahnt der 51-Jährige.

Immer weniger DFB-Talente in der Bundesliga

Der Sportreport der Deutschen Fußball-Liga (DFL) nennt alarmierende Zahlen: In dieser Bundesliga-Hinrunde waren nur drei Prozent der eingesetzten Profis deutsche U21-Spieler – halb so viele wie im Vorjahr. „Wir sehen: England, Frankreich, Spanien oder die Niederlande bilden teilweise das Fünffache an guten Spielern aus“, sagt Bierhoffs Sportlicher Leiter Joti Chatzialexiou.

Auch Meikel Schönweitz (40) ist das Problem bewusst. „Wir haben einen riesigen Talentpool in Deutschland, aber wir schaffen es momentan nicht, den optimal auszuschöpfen“, erklärt der DFB-Chefjugendtrainer. „Das Problem ist: Wir sind überprofessionalisiert, haben viel zu viele Einflussfaktoren und Möglichkeiten, dass Talente verhindert werden.“ Die hochgelobten Nachwuchsleistungszentren haben zwar viele taktisch hervorragend ausgebildete Fußballer hervorgebracht, wichtige Aspekte wie die Persönlichkeitsentwicklung und das Fördern individueller Stärken aber sind auf der Strecke geblieben.

Außer Kai Havertz aus Leverkusen drängt kein Juniorenspieler in die Elf von Joachim Löw

20 Jahre alt und ein hoffnungsvolles DFB-Talent: Nicolas Kühn spielt nicht mehr in der Bundesliga, sondern für Ajax Amsterdam.
20 Jahre alt und ein hoffnungsvolles DFB-Talent: Nicolas Kühn spielt nicht mehr in der Bundesliga, sondern für Ajax Amsterdam. © Imago

Und das hat Folgen: Früher mussten Kuntz oder seine Vorgänger vor Turnieren lange mit Bundestrainer Joachim Löw diskutieren, welche Spieler der ihnen lässt. Und heute? „Außer Kai Havertz ist da niemand mehr“, meint Kuntz. Keiner seiner Spieler drängt in die A-Nationalmannschaft, die wenigsten sind in der Bundesliga etabliert. „Außer Ridle Baku beim FSV Mainz 05 ist eigentlich keiner Stammspieler.“ Selbst die Gewinner der Fritz-Walter-Medaille, die besten deutschen Nachwuchsspieler also, sind ins Ausland geflüchtet, weil sie sich dort mehr Spielpraxis und eine bessere Ausbildung erhoffen: Nicolas Kühn (20) ging 2018 von RB Leipzig zu Ajax Amsterdam und schloss sich gerade erst im Januar dem FC Bayern II an, Karim Adeyemi (18) zog es 2019 von der SpVgg Unterhaching zu RB Salzburg.

Wie lässt sich das ändern? „Wir können den Vereinen bestimmt nicht vorschreiben, deutsche Spieler einzusetzen“, meint Bierhoff. „Das wird sich erst wieder ändern, wenn deutsche Jugendspieler besser sind.“ Und dafür hat der DFB einiges auf den Weg gebracht – vor allem die Akademie, die der Verband für 150 Millionen Euro in Frankfurt baut und die 2021 fertig sein soll. Hier will deren Leiter Tobias Haupt Fachwissen generieren und bündeln, um die Praktiker im Verband zu unterstützen.

In der DFB-Akademie sollen Spieler und Nachwuchstrainer besser werden

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„Wir müssen definitiv wieder das Talent in den Fokus stellen“, sagt der 36-Jährige. „Und wir müssen unsere Trainer ganz individuell entwickeln.“ Ein Beispiel zeigt, wie das Zusammenspiel funktionieren soll: Den DFB-Nachwuchstrainern fehlen treffsichere Stürmer. Also ermittelten die Analysten in der Akademie anhand von Statistiken eine sogenannte Golden Zone, aus der im europäischen Fußball die meisten Tore erzielt werden. Zusätzlich wurden die Vorlagen erfasst, das Ganze mit Videoszenen unterfüttert. Kuntz und die übrigen Trainer konnten ausarbeiten, „was wir den Jungs beibringen müssen, damit sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind – und was sie können müssen, um den Ball dann zu verwerten“.

Das Stürmertraining, das vergangene Woche den Nachwuchstrainern der Profiklubs vorgestellt wurde, ist ein Baustein von vielen, um den deutschen Nachwuchs zurück in die Weltspitze zu hieven. Das braucht einen langen Atem. Aber auch der umtriebige Oliver Bierhoff weiß: „Für die, die heute 18 sind, kommen die Maßnahmen zu spät.“