Leverkusen. Falko Götz hat für seine Flucht aus der DDR viel riskiert. Im Interview erklärt er 30 Jahre nach dem Mauerfall seine ungewöhnlichen Gründe.

Falko Götz floh am 3. November 1983 bei einem Auswärtsspiel seines Vereins BFC Dynamo Berlin gemeinsam mit Mannschaftskollege Dirk Schlegel von Belgrad aus in den Westen. Im Gespräch erinnert sich der langjährige Spieler und Trainer an seine Flucht und erklärt, warum er in der DDR nichts vermisst hat.

Herr Götz, ihr früherer Trainer der DDR-Jugendmannschaft Jörg Berger hat seine Flucht 1979 mit dem Wunsch nach Freiheit begründet. Warum sind Sie damals geflohen?

Die Motivation, die DDR zu verlassen, war eng verknüpft mit meinem Ehrgeiz, die bestmögliche Förderung zu bekommen.

Was in der DDR nicht möglich war?

Nein, trotz meines früh erkannten Talents und der Ausbildung beim Top-Klub Dynamo Berlin, in dem ich in jedem Jahrgang einer der drei besten Spieler war, durfte ich aufgrund der West-Verwandtschaft meiner Mutter nicht die Sportschule besuchen, obwohl ich bei der Aufnahmeprüfung sehr gut abgeschnitten habe. Da war ich 13 Jahre alt und habe festgestellt: Es kann gut passieren, dass dir dein ganzes Talent nichts nutzt, wenn der Staat es nicht will. Politisch musste man sauber sein.

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Wie ging es dann weiter für Sie?

Ich bin weiter beim Klub geblieben, hatte erfolgreiche Zeiten in der A- und B-Jugend, wurde mehrfach Torschützenkönig. Als es dann Richtung Seniorenfußball ging, habe ich mich gefragt: Geht es jetzt im DDR Fußball so weiter, wie ich mir das vorstelle, oder ist es vielleicht besser – und dann kommt das Wort Freiheit ins Spiel – frei entscheiden zu können, wo und wie ich Fußball spiele und meine Karriere gestalte. So ist im Endeffekt der Gedanke zur Flucht gekommen. Das hatte keine politischen Gründe. Meine Flucht war immer sportlich motiviert. Das Messen mit den Besten aus der Bundesliga spielte auch eine Rolle dabei.

Falko Götz trainierte zuletzt den FSV Frankfurt.
Falko Götz trainierte zuletzt den FSV Frankfurt. © dpa

Konnten Sie denn die Bundesliga verfolgen?

Wir haben in Ost-Berlin gelebt und West-Fernsehen bekommen. Die Sportschau lief hoch und runter und ermöglichte auch eine Art Vergleich für mich. Jürgen Pahl und Norbert Nachtweih, die aus der DDR geflohen sind, waren damals sehr präsent für mich und auch Vorbild zu sagen: Die haben es auch geschafft. Als dann die ersten Jugendländerspiele kamen, in denen wir auch gegen Mannschaften aus dem Westen gespielt haben, konnte ich mir auch grob ausmalen, dass ich jetzt nicht so weit hinten dranhängen würde.

Haben Sie denn in dieser Zeit etwas vermisst, was Sie bei Auswärtsspielen oder durch das Fernsehen mitbekommen haben?

Nein, Konsum spielte gar keine Rolle. Wir haben tolle Freundschaften gehabt. Ich war in einer tollen Schulklasse, war mit guten Jungs bei Dynamo Berlin zusammen. Wir hatten unsere eigenen Träume, die nur mit Fußball zu tun hatten, losgelöst vom Materiellen. Mir hat es an nichts gefehlt, im Gegenteil. Ich bin wohlbehütet aufgewachsen, meine Eltern haben mich in ihren Möglichkeiten immer unterstützt.

1983, im Jahr Ihrer Flucht, war noch nicht abzusehen, dass die Mauer in sechs Jahren fallen würde.

Ganz und gar nicht. In dem Augenblick, in dem ich die Flucht vollzogen habe, war das eine Trennung für immer. Meine Eltern durften mich später, als die Politik auch einen Kurs der Annäherung verfolgte, im Westen besuchen, wenn auch nie zusammen, sondern immer einzeln.

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Sie haben die Flucht mit Ihrem Mitspieler Dirk Schlegel unternommen. Vertrauen war wohl das A und O bei diesem Unterfangen.

Ich kenne Dirk Schlegel seit meinem sechsten Lebensjahr, wir kennen uns in- und auswendig. Das konnte ich nicht von einem dritten oder vierten behaupten, deswegen haben wir das, abgesehen von unseren Familien, alles für uns behalten. Für mich war es sehr wichtig, mit dem Dirk zusammen abzuhauen. Nur Dirk hat zu der Zeit in keiner Nationalmannschaft gespielt. Ich wäre noch mit der U21 rausgekommen, aber ich wollte nicht alleine fliehen.

In Belgrad haben Sie beide sich erfolgreich absetzen können. Die Konsequenzen bei einem Fehlversuch wären drastisch ausgefallen.

Ja, zumal ich zu der Zeit meinen Wehrdienst geleistet habe, was sich noch haftverschärfend ausgewirkt hätte. Es war eine Situation, geprägt von Adrenalin und Spannung, in der es darum ging, den entscheidenden Augenblick abzupassen. Wir hatten schon zwei, drei Anläufe genommen, doch immer wieder kam irgendeiner dazwischen, wir wurden ja auf Schritt und Tritt überwacht. Es war ja auch nicht so, dass wir einfach in ein Taxi steigen konnten.

Wie ist es denn genau abgelaufen?

Wir sind am Tag des Spiels in ein Shopping-Center gegangen, was unüblich war. Normalerweise haben wir Taschengeld bekommen, was wir dann zu Hause bei Intershop nutzen konnten. Das jugoslawische Geld war jedoch nicht frei konvertierbar, weswegen uns gesagt wurde: Ihr habt eine Stunde, das Geld auszugeben. In der unteren Etage war eine große Musikabteilung, da sind wir gemeinsam mit den Funktionären rein. Als wir gesehen haben, dass alle, auch unsere Beobachter, zu den Plattenständen gingen, war uns klar: Das ist unser Moment.

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Klingt nach einer spontanen Aktion.

Es war schon geplant, dass wir ein Taxi in die Botschaft nehmen. Aber die Situation selber musste sich risikofrei ergeben, das war dort der Fall. Wir haben gesehen, dass ein älterer Herr aus einem Nebeneingang reinkam und dass dahinter öffentlicher Verkehr war. Wir haben nochmal nach hinten geschaut, die waren alle vertieft, also sind wir aus der Tür raus – und sind erst mal gerannt. Irgendwann kamen wir zu einem Taxistand und sind zur Botschaft gefahren. Von da aus ging es ins Konsulat nach Zagreb, bevor es mit dem Zug über Ljubljana nach München ging.

Welche Erinnerungen haben Sie an die Fahrt?

Uns ging es richtig schlecht, denn wir haben zum ersten Mal realisiert: Jetzt ist etwas, was nicht mehr zurückzunehmen ist. Das Gefühl hat uns 400 Kilometer lang bis nach Zagreb begleitet. Da hast du Raum für kurze Gespräche, aber auch Raum für lange Gedanken, die dich geistig sehr müde machen.

Erleichterung stellte sich wohl erst hinter der Grenze ein?

Als wir am Bahnhof von Villach gesehen haben, wie die Zöllner ausstiegen und der Zug wieder anfuhr, stellte sich ein inneres Wohlbefinden ein. Dirk war fix und fertig, der hat sich sofort hingelegt und ist eingeschlafen. Bei mir war es nicht viel anders. Als wir in München ausgestiegen sind, haben wir erst mal gemerkt: Jetzt ist es geschafft.

Sie sind dann direkt nach Gießen in ein Auffanglager gefahren.

Dort hatten wir dann die ersten Gespräche mit dem Verfassungsschutz und dem BND gehabt und haben unsere Papiere bekommen. Und hatten da schon auf Grund der schnellen Veröffentlichung unserer Flucht die ersten Anfragen.

Es wurde Bayer Leverkusen.

Nicht alle Vereine haben uns beiden ein Angebot gemacht, was für uns aber Bedingung war.

Wie verlief der Start in der neuen Heimat?

Im Jahr der Sperre haben wir fürs Bayer-Kaufhaus gearbeitet. Ich habe Fan-Artikel verkauft, Dirk war ein Technik-Freak, der ist in die Musikabteilung gegangen. Da haben wir vier Mal die Woche halbtags gearbeitet, was auch zur Integration beigetragen hat, weil wir über Arbeitskollegen eine ganz andere Schicht von Leuten kennenlernten.

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Sie wurden gut aufgenommen und fühlten sich schnell willkommen?

Ja, definitiv. Ich muss heute noch sagen, Rainer Calmund, besonders unser Trainer Dettmar Cramer und Spieler wie Dieter Bast, Jürgen Röber, Rüdiger Vollborn, Herbert Waas oder Bum-kun Cha haben sich wahnsinnig gut um uns gekümmert.

Wie hat sich das geäußert?

Ich habe die Wohnung von Rudi Vollborn, selber Berliner, übernommen, wir sind bis heute gut befreundet. Dettmar Cramer, der hat 100 Meter von mir entfernt gewohnt, kam abends vorbei, ist direkt durch, hat den Kühlschrank gemustert und gesagt: „Oh Gott, lass uns essen gehen“ (lacht). In dem Jahr, als ich gesperrt war, hat er das ein paar Mal gemacht. Rainer Calmund ist rüber zu meinen Eltern gefahren und hat ihnen versichert, dass sie sich um mich kümmern werden. Menschlich, muss ich sagen, überragend.

Sie haben dann vier erfolgreiche Jahre in Leverkusen verbracht und auch bei ihren weiteren Stationen Erfolg haben können. Rückblickend gesehen also alles richtig gemacht?

Meine Flucht war in jedem Fall ein voller Erfolg, sportlich wie privat. Dass ich nun wieder bei Bayer Leverkusen tätig bin, ist eine sehr schöne Sache. Es fühlt sich an, als ob sich ein Kreis schließen würde. Von daher bin ich ein sehr glücklicher Mensch und total zufrieden, dass ich bis heute im Fußball arbeiten kann.