Gelsenkirchen. Vor genau 50 Jahren wurde eine große, aber skandalumwitterte Mannschaft von Schalke 04 DFB-Pokalsieger. Top-Torwart Norbert Nigbur erinnert sich.
Norbert Nigbur ist zwiegespalten. Natürlich gerät auch er ins Schwärmen, wenn er über damals redet. Über die Mannschaft von 1972, über deren Spielkunst. Vor genau 50 Jahren, am 1. Juli, gewann der FC Schalke 04 mit berauschendem Fußball den DFB-Pokal, beim triumphalen 5:0 in Hannover war der 1. FC Kaiserslautern chancenlos. Aber Norbert Nigbur war dieser Erfolg nicht genug. Noch heute kann sich Schalkes Jahrhunderttorhüter aufregen, wenn er an das verpasste Größere denkt. „Wir hatten das Zeug zum Meister“, sagt der 74-Jährige. Und dann fällt zwangsläufig das Wort Skandal.
„Wir hätten eine große Zukunft gehabt, wenn wir zusammengeblieben wären“, meint Norbert Nigbur. „Wir waren noch nicht am Ende unserer Entwicklung.“ Doch die potenziell langjährige Spitzenmannschaft der Königsblauen glänzte nur ein Jahr lang.
Die Unruhe durch die DFB-Ermittlungen störte Schalkes Konzentration auf die Spiele
Schon vor dem Saisonendspurt waren dunkle Wolken aufgezogen. Die Aufklärungsarbeit des DFB nach der Enthüllung des gigantischen Bestechungsskandals der Vorsaison löste das große Zittern aus. 1971 war der Abstiegskampf durch Betrug entschieden worden, und beteiligt waren auch Spieler von Schalke 04, die Geld für eine Heimniederlage gegen Arminia Bielefeld angenommen hatten. Ihnen drohten lebenslängliche Sperren.
Norbert Nigbur war nicht betroffen, er hatte im Skandalspiel verletzt gefehlt. Aber er bekam natürlich mit, was seitdem los war. „Es gab sogar Geheimtreffen“, erzählt er. „Da kam außer den betroffenen Spielern keiner rein.“ Auch er nicht.
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Ob es auch an dieser Unruhe lag, dass das letzte Bundesligaspiel jener Saison, das direkte Duell der beiden Titel-Anwärter, mit 1:5 beim FC Bayern in die Hose ging? „Ach“, sagt Norbert Nigbur und winkt ab. „Wir hatten die Meisterschaft schon in Bremen liegen lassen. Viele von uns hatten Magen-Darm-Probleme, weil uns Betreuer Ede Lichterfeld vorher Fisch zu essen gegeben hatte.“ In München lief dann alles schief. Es war ein Festtag für die Bayern, ihr erstes Spiel im neuen Olympiastadion. Als Norbert Nigbur beim Stand von 1:2 verletzt raus musste, war die Sache gelaufen.
Aber es gab ja noch das Pokalendspiel, nur vier Tage später. Da rissen sich noch mal alle zusammen. Der angeschlagene Norbert Nigbur war auch wieder dabei, ohne ihn hätte Schalke das Finale gar nicht erreicht. Im Halbfinal-Rückspiel gegen Köln, einem Jahrhundert-Ereignis mit insgesamt 21 Elfmetern, schnappte sich der Top-Torwart drei Kölner Elfmeter und verwandelte selbst einen – legendär.
Im Endspiel von Hannover glänzte die gesamte Schalker Mannschaft
Im Endspiel von Hannover war die ganze Mannschaft in Bestform. Am Tag danach wurde sie daheim ganz groß empfangen. Als die Spieler auf einem Lkw den Triumphzug starteten, war nicht nur der Bahnhofsvorplatz verstopft. „Ich bin ja ein Gelsenkirchener Junge, aber noch nie hatte ich die Straßen so voll gesehen“, erzählt Norbert Nigbur. „Aus dem Zug herauszukommen, war schon schwer.“ Es war eine Zeit, in der sie wie Popstars verehrt wurden, auch die Bravo umgarnte die gutaussehenden Jungs mit den modisch langen Haaren. Die Kremers-Zwillinge und ihr Torwart nahmen sogar Schallplatten auf. „Wir waren die Beckhams von Gelsenkirchen“, sagt Norbert Nigbur und muss dabei laut lachen.
War das von Ivica Horvat trainierte Team das spielstärkste der Schalker Geschichte? „Vergleiche sind schwierig“, meint Norbert Nigbur. „Aber man muss nur mal nachzählen, wie viele Nationalspieler wir hatten.“ Auch wenn einige es erst später wurden: Es waren sieben.
Doch schon während der Pokal-Party ließen sich die Probleme dieses Teams nicht mehr verbergen. Kapitän Reinhard Libuda, der Stan, lächelte verlegen, als die Massen immer wieder seinen Namen riefen, jede Silbe einzeln betont: LI-BU-DA. LI-BU-DA. Der Dribbelkünstler wusste, dass er gerade sein letztes Spiel für Schalke hinter sich hatte, mit 28 stand ihm ein Wechsel zu Racing Straßburg bevor. „Ich muss ehrlich sagen: Ich bin ein bisschen traurig“, sagte er inmitten des Trubels.
Die Tragik des Stan Libuda: Schalkes Kapitän machte beim Skandal nur widerwillig mit
Es war eine Flucht vor dem DFB. Libuda, der 1996 mit nur 53 Jahren starb, beteuerte Zeit seines viel zu kurzen Lebens, dass er bei jenem schmutzigen Geschäft gar nicht mitmachen wollte. Norbert Nigbur erzählt, Mitspieler hätten dem Stan das Geld einfach in der Kabine in die Tasche gesteckt. Libuda hatte dann nicht mehr den Mut für einen Alleingang, den er auf dem Platz doch so perfekt beherrschte.
„Wenn der Stan wie im Finale einen guten Tag hatte, bekamen seine Gegenspieler Kreislaufprobleme“, sagt Norbert Nigbur und schlägt einen Bogen zur Neuzeit: „Wenn unsere Außenstürmer Stan Libuda und Erwin Kremers heute spielen würden, müsste keiner darüber diskutieren, wie viele Tore Simon Terodde wohl in der Bundesliga schießen wird. Die würden ihm genügend Bälle auflegen.“
In der folgenden Saison zerfiel Schalkes Traumelf, einige Stars wurden lange gesperrt. Schalke rettete sich nur knapp vor dem Abstieg, auch wegen des Torwarts. „Sepp Maier hat damals eine Ente im Stadion gejagt, ich habe pro Spiel 30 bis 40 Bälle aufs Tor bekommen“, erinnert sich Norbert Nigbur.
Demnächst lässt er sich an der Hüfte operieren, danach will der passionierte Pferdesportler auch wieder Trabrennen fahren. Bei den Voruntersuchungen ist er erkannt und auf seine große Zeit angesprochen worden. „Egal, wo ich hinkomme“, sagt er nicht ohne Stolz, „ich bin immer ein Schalker.“