Mönchengladbach. Gladbach kann am Dienstag gegen Inter Mailand ins Achtelfinale der Champions League einziehen. Ulrik le Fevre erinnert sich ans Drama von 1971.

Das vielleicht berühmteste Stück Blech der Sporthistorie hängt heute an einem Draht. Seitlich ragt er in die Trinköffnung der roten Limonadendose, die so aus manchem Blickwinkel gar in der Luft zu schweben scheint. Es handelt sich um ein ganz besonderes Exponat im Vereinsmuseum von Borussia Mönchengladbach. Mit dieser Büchse nahm einst ein fußballerisches Drama seinen Lauf, das zur großen Legende wurde.

Es war der 20. Oktober 1971, als Gladbach zum Achtelfinal-Hinspiel im Europapokal der Landesmeister gegen Inter Mailand antrat. In der Mannschaft von Trainer Hennes Weisweiler, die fünf Monate zuvor ihren zweiten Meistertitel nach 1970 gefeiert hatte, spielte damals auch Ulrik le Fevre, der 1969 vom dänischen Klub Vejle BK zum Bundesligisten gewechselt war. Der pfeilschnelle Linksaußen, ein technisch begnadeter Fußballer mit Torinstinkt, erzielte per Kopf im Stadion am Bökelberg in der 21. Minute das 2:1, ehe es in der 29. Minute zu einem folgenschweren Zwischenfall kam: Eine Dose flog aus der Gladbacher Fan-Ecke in Richtung Spielfeld – und traf Inter-Stürmer Roberto Boninsegna.

Aufregung nach dem Büchsenwurf

Le Fevre, inzwischen 74 Jahre alt, erzählt im Gespräch mit dieser Redaktion, er selbst habe den Büchsenwurf nicht gesehen. Er sah allerdings Boninsegna, den Torschützen zum zwischenzeitlichen 1:1, der sich auf dem Rasen krümmte. „Plötzlich lag er auf dem Boden“, sagt le Fevre. „Wir haben danach nur gehört, dass er von einer Cola-Büchse getroffen wurde. Einige sagen, dass sie leer war. Und einige, die dicht dabei waren, sagen auch, dass sie nicht seinen Kopf getroffen hatte, sondern seine Schulter.“ Um den italienischen Angreifer herum versammelten sich sofort Spieler und auch der niederländische Schiedsrichter Jef Dorpmans. Es herrschte helle Aufregung.

Mai 2019: Ulrik le Fevre bei der Eröffnung des Vereinsmuseums von Borussia Mönchengladbach.
Mai 2019: Ulrik le Fevre bei der Eröffnung des Vereinsmuseums von Borussia Mönchengladbach. © imago | Unbekannt

Boninsegna wurde ausgewechselt, auf einer Trage vom Feld gebracht. Dorpmans lief in die Kabine, kehrte erst einige Minuten später nach einem Gespräch mit der Polizei wieder zurück und setzte ein Spiel fort, in dem die Gladbacher über den Rasen fegten. Le Fevre traf an diesem magischen Abend ebenso doppelt wie Günter Netzer und Jupp Heynckes, den Schlusspunkt setzte Klaus-Dieter Sieloff. 7:1! „Wir haben fantastisch gespielt. Es war vielleicht das beste Spiel, das es jemals auf dem Bökelberg gab“, sagt le Fevre. „Die Stimmung war euphorisch. Alle sprachen in den nächsten Tagen von diesem Spiel.“

Le Fevre: „Die Enttäuschung war riesengroß“

Millionen Fußball-Fans in Deutschland hatten die Partie aber gar nicht verfolgen können. Es gab keine Fernsehbilder, weil Gladbachs Manager Helmut Grashoff und die ARD sich nicht darauf hatten verständigen können, wer die Übertragungskosten von rund 60.000 Mark übernimmt. So sahen viele Fans auch nicht die berüchtigte Szene mit Boninsegna, nach dessen Befinden sich der damalige Gladbacher Mannschaftsarzt Dr. Alfred Gerhards nach dem Spiel noch habe erkundigen wollen, wie le Fevre berichtet: „Er durfte aber nicht in die Kabine von Inter. Das wurde ihm untersagt.“ Inter legte nach der Demontage Einspruch gegen die Wertung des Spiels bei der Europäischen Fußball-Union Uefa ein. Es sollte aber noch dauern, bis eine Entscheidung fiel.

Drei Tage nach dem Spektakel gegen Inter überrollten die Gladbacher zunächst mit ihrem Europapokal-Rückenwind den damaligen Liga-Spitzenreiter Schalke 04. Le Fevre erzielte bei dem sensationellen 7:0-Sieg sogar einen Treffer, der später in der ARD zum ersten Sportschau-Tor des Jahres gewählt wurde. Vor dem Schuss hatte er zwei Gegenspieler mit der Kugel in der Luft ausgetänzelt. „Es ging alles ganz schnell im Strafraum“, erinnert er sich: „Erst über den einen Schalke-Verteidiger, der Ball hat den Boden nicht berührt, dann über den folgenden und anschließend volley aus der Drehung ins Tor. Man muss auch Glück haben. Und das hatte ich.“ Gladbach hingegen hatte im Europapokal Pech: Die Uefa annullierte wenige Tage später das 7:1 wegen des Büchsenwurfs und ordnete eine Platzsperre für die nächsten drei Heimspiele der Borussia im europäischen Wettbewerb an.

„Die Enttäuschung war riesengroß, als wir hörten, dass das Spiel nicht gewertet wird“, sagt le Fevre: „Wir konnten es gar nicht glauben.“ Boninsegna beteuert bis heute, dass es sich nicht um eine Inszenierung der Italiener gehandelt habe. „Ich erinnere mich genau an diesen Moment. Ich war auf dem Weg, um einen Einwurf auszuführen, als ich einen Schlag verspürte. Ich wurde ohnmächtig, das hat auch der französische Uefa-Kommissar bestätigt, der mich in der Kabine untersucht hat“, sagt der 76-Jährige über den Skandal bei der „Partita della lattina“ – dem Büchsenspiel, wie es in Italien schlicht genannt wird.

Das vielleicht berühmteste Stück Blech der Sporthistorie: die Dose aus dem Büchsenwurfspiel von 1971 im Gladbacher Vereinsmuseum.
Das vielleicht berühmteste Stück Blech der Sporthistorie: die Dose aus dem Büchsenwurfspiel von 1971 im Gladbacher Vereinsmuseum. © Unbekannt | Unbekannt

Gladbach verlor das Rückspiel in Mailand am 3. November mit 2:4. Das 0:0 im Wiederholungsspiel im Berliner Olympiastadion am 1. Dezember –  also am Dienstag vor 49 Jahren – bedeutete den K.o. für die Borussen im Achtelfinale. „Wir hatten uns viel vorgestellt im Europapokal der Landesmeister“, seufzt le Fevre. „Hätten wir das erste Spiel richtig gewonnen, wären wir weitergekommen. Ich glaube, wir hatten die Mannschaft, um sogar den Pokal zu gewinnen.“ Aus dem Traum von der Trophäe wurde das Drama um eine Dose, die Geschichte schrieb.

Heimkehr der Büchse nach Mönchengladbach

Schiedsrichter Dorpmans nahm die Büchse mit in die Niederlande. Dort stand sie lange Zeit im Museum des Erstligisten Vitesse Arnheim. Gladbach bemühte sich 2011, sie anlässlich des 40. Jahrestags des Büchsenwurfs zu erwerben, im Juni 2012 wurde sie der Borussia übergeben. Seit der Eröffnung des Vereinsmuseums Fohlenwelt im Mai 2019, bei der auch le Fevre zu Gast war, hat sie in Mönchengladbach ihren Platz.

Ulrik le Fevre, der nach seiner Karriere Spielerberater war, wohnt heute in seiner Heimatstadt Vejle. Der Borussia ist er noch eng verbunden: „Ein- oder zweimal im Jahr komme ich normalerweise nach Gladbach. Natürlich ist das wegen des Coronavirus momentan nicht möglich, was schade ist. Aber ich verfolge die Spiele im Fernsehen.“

So wird er auch am Dienstag (21 Uhr/DAZN) am Bildschirm mitfiebern, wenn Gladbach im Heimspiel gegen Inter Mailand vorzeitig ins Achtelfinale der Champions League einziehen kann. „Die Gladbacher haben eine gute Mannschaft“, lobt le Fevre: „Ich hoffe natürlich, dass sie jetzt gegen Inter gewinnen.“ 49 Jahre nach dem tragischen Aus wäre das auch für ihn eine große Freude.