Frankfurt. Ilkay Gündogan ist ein fester Bestandteil der Nationalelf. In vier Jahren absolvierte aber nur elf Spiele. Wir haben mit dem BVB-Profi gesprochen.
Mit Fug und Recht darf man Ilkay Gündogan, 24, als gestandenen Fußball-Nationalspieler bezeichnen. Sein Debüt für Deutschland liegt immerhin vier Jahre zurück. Und dass seitdem gerade mal zehn Länderspiele hinzugekommen sind, hat natürlich Gründe. „Wahrscheinlich wären es ein paar mehr gewesen, wenn das alles nicht passiert wäre“, sagt der Dortmunder.
Herr Gündogan, haben Sie Lust auf eine kleine Zeitreise?
Ilkay Gündogan: Dann mal los.
Wenn Sie die Uhr um genau ein Jahr zurückdrehen, woran müssen Sie da denken?
Gündogan: Dass es eine extrem schwierige Zeit für mich war. Wenn man es genau nimmt, dann war vor anderthalb Jahren die härteste Zeit. Ich war schwer verletzt, wusste nicht so recht, was mit mir los war, und dann musste ich auch noch die WM absagen. In meinem Kopf waren nur Fragezeichen, ich wusste nicht, was aus mir werden soll.
Hatten Sie zwischenzeitlich die Hoffnung aufgegeben, Ihr altes Niveau noch mal erreichen zu können?
Gündogan: Klar hatte ich Zweifel. Ich hatte nicht nur Zweifel, ob ich noch mal so gut wie vorher werden könnte. Ich hatte sogar Zweifel, ob es überhaupt noch mal reicht. Ich war einer totalen Unsicherheit ausgesetzt.
Zunächst hat man dann ein Nervwurzelreizsyndrom diagnostiziert, dann wurden Sie an der Lendenwirbelsäule operiert. Ist trotzdem noch ein bisschen Unsicherheit geblieben?
Gündogan: Nein. Jetzt fühle ich mich fit. Ich habe einen Haken hinter all dem gemacht.
Quasi auf der Überholspur haben Sie sich auch wieder für die Nationalmannschaft interessant gemacht. Fühlen Sie sich auch als Nicht-Weltmeister wieder als fester Bestandteil dieser Nationalmannschaft?
Gündogan: Das geht natürlich nur dadurch, dass man sich diesen Status, seine Fitness und sein Selbstbewusstsein über die Leistung im Verein holt. Dortmund hatte Schwierigkeiten in der Vorsaison, jetzt läuft es. Das Gleiche gilt so ähnlich auch für mich.
Wie schafft man es, Fußball nicht zu verlernen, wenn man 422 Tage gar nicht spielt?
Gündogan: Puh, gute Frage. Wahrscheinlich steckt das irgendwo in einem drin. Man muss es nur rauslassen. Dazu braucht man vor allem Selbstbewusstsein.
Am Ende also alles Kopfsache?
Gündogan: Der Kopf spielt eine extrem große Rolle, klar. Das haben wir mit Dortmund vor allem in der vergangenen Saison bitter spüren müssen. Irgendwann haben die Dinge, die sonst ganz selbstverständlich klappen, nicht mehr geklappt. Das hat dann weniger mit den Füßen zu tun.
Was hat Thomas Tuchel mit Dortmunds Köpfen gemacht?
Gündogan: Es klingt banal, aber wir haben einfach Spaß am Fußball. Das sieht man wahrscheinlich auch.
Sie hatten das Privileg, mit Tuchel, Jürgen Klopp und Joachim Löw von den wahrscheinlich drei besten Trainern Deutschlands trainiert zu werden...
Gündogan: ...und ich habe auch wirklich von allen dreien viel gelernt. Aber bitte fragen Sie mich jetzt nicht, ob man die drei vergleichen kann. Denn mit solchen Vergleichen wird man nie dem einzelnen gerecht. Jürgen Klopp hat beispielsweise über sechseinhalb Jahre sensationelle Erfolge gefeiert. Da kann ein halbes schlechtes Jahr nichts kaputt machen. Und Thomas Tuchel hat jetzt ein neues Kapitel in einem neuen Buch aufgeschlagen. Bisher läuft es super.
Überhaupt nicht super lief es vor ein paar Wochen zwischen den Fans und Ihnen, als Sie Ihren Vertrag um „nur“ ein Jahr verlängert haben...
Gündogan: Die Saisoneröffnung, bei der es vereinzelte Pfiffe gegen mich gab, war natürlich alles andere als schön. Zuletzt gab es sogar richtig viel Applaus, als ich ausgewechselt wurde. Das tat unglaublich gut.
Als einer von wenigen Namen wurde Ihrer auch nicht am letzten Tag der Transferperiode genannt. Haben Sie bei all dem Durcheinander den Überblick verloren?
Gündogan: Es war nicht einfach, da durchzusteigen. Es ist schon Wahnsinn, was da mittlerweile für Summen hin und hergeschoben werden. Irgendwann muss man die Frage beantworten, was ein Profi, aber auch ein Mensch wert ist. 75 Millionen Euro? Für einen Fußballer? Vielleicht für einen Lionel Messi. Aber sonst?
Ilkay Gündogan über die aktuelle Flüchtlingsdebatte und seinen persönlichen Hintergrund
Herr Gündogan, Sie sind Deutscher mit einem so genannten Migrationshintergrund. Was denken und fühlen Sie, wenn Sie von 71 Menschen hören, die in einem Lastwagen verenden, weil sie ein besseres Leben in Deutschland wollten?
Gündogan: Ich fühle eine unendliche Traurigkeit. So etwas geht an keinem spurlos vorbei. 71 Menschen. Grausam. Ich kann nur hoffen, dass die Verantwortlichen bestraft werden.
Auch Ihr Großvater, der als Gastarbeiter eingewandert ist und unter Tage gearbeitet hat, wollte ein besseres Leben in Deutschland suchen. Er hat es in Gelsenkirchen gefunden, wo Sie geboren wurden. Was bedeutet Ihnen Deutschland?
Gündogan: Deutschland ist mein Zuhause. Es ist der Ort, an dem ich gerne bis an mein Lebensende bleiben möchte. Natürlich habe ich eine besondere Beziehung zur Türkei, aber meine Heimat ist und bleibt Deutschland. Und ich bin unglaublich dankbar dafür, dass ich hier aufwachsen durfte, weil mein Opa all diese Strapazen auf sich genommen hatte.
Hat Ihr Opa Ihnen mal über diese Strapazen berichtet?
Gündogan: Klar. Er hat sein ganzes Leben in der Türkei stehen und liegen gelassen, um ein neues Leben anzufangen. Das war für ihn nicht einfach. Für so eine Entscheidung braucht man viel Mut und Ehrgeiz. Mein Opa hatte diesen Mut, hat dann meine Oma und später meinen Papa nachgeholt. Und für alle war das brutal schwierig. Keiner konnte die Sprache, dabei ist die Sprache der entscheidende Schlüssel.
Was sagt ein Deutscher wie Sie, wenn er in den Nachrichten die Bilder aus Heidenau sieht, wo gewalttätig gegen Flüchtlingsheime protestiert wird?
Gündogan: Dann macht mich das wütend, aber vor allem traurig. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es uns zu gut geht in Deutschland und wir uns deshalb nicht in andere Menschen versetzen können, denen es nicht so gut geht. Dabei reicht schon ein Blick zur Nationalmannschaft. Bei uns gibt es doch genug Spieler, deren Eltern aus anderen Ländern gekommen sind. Ohne Zuwanderer wäre Deutschland nie Weltmeister geworden.