Ballon d’Alsace. .
In einem Bericht über die Tour de France von 1906 steht: „René Pottier hat den Ballon d’Alsace mit 20 km/h bezwungen. Wir haben die Mission des Mannes mit dem Herzen einer Bulldogge begleitet. Welche mysteriöse Kraft erlaubt es dem menschlichen Organismus, die Grenze des Möglichen so weit zu verschieben.“
Das Herz einer Bulldogge habe ich hoffentlich nicht, aber dafür sehe ich „richtig schön alt aus“, sagt zumindest der Fotograf. Aber es stimmt ja. Meine Füße stecken in Schuhen aus dem Fundus eines Filmstudios auf dem Kopf trage ich eine Art Kaffeewärmer, der 1903 todschick gewesen war. Dazu eine Schweißerbrille und ein Wolltrikot, das genauso erbärmlich kratzt wie die Hose. Neben mir steht ein Ding, das ein Fahrrad sein soll, und ziemlich genau 111 Jahre alt ist – so alt, wie das größte Radrennen der Welt, die Tour de France. „Mit solchen Böcken sind sie 1903 gefahren“, schwärmt der Fotograf, der nicht in den Sattel muss. Ich soll dagegen ERFAHREN, wie das damals war. Und zwar hinauf auf den Ballon d’Alsace in den Vogesen. Am Sonntag ist die Region für die aktuellen Siegkandidaten der zuschauerumwogte erste Härtetest der Tour, wenn es in der Nähe über den Grand Ballon geht, den ersten Kategorie 1 Berg der Tour 2014.
Vor dem ersten Tritt ein Blick ins Archiv: In der Gründerzeit der Tour haben die meisten Rennfahrer vor dem Start erst mal eine geraucht, weil die Ärzte der Meinung waren, das mache die Lunge so richtig frei. Die Etappen waren zwischen 300 und 500 Kilometer lang. Gerne nahm man auf dem Ritt ein Bier mit etwas Zucker oder Rotwein mit gequirltem Ei. Ja, wenn das so ist, denke ich zu Hause bei einem Gläschen Rosé (ohne Ei), kann das alles nicht so schwer gewesen sein. Im Archiv gibt es auch ein Bild von René Pottier, 1906 der erste Sieger auf dem Ballon. Ein hagerer Mann, der etwas gequält unter seinem dreckverklebten Schnauzer herauslächelt.
Den Hochrädern nachempfunden
108 Jahre später stehe ich auf dem Marktplatz im elsässischen Seven, etwa zehn Kilometer von der Passhöhe entfernt. Neben mir steht das stählerne Fossil. 13,3 Kilo, keine Gangschaltung, kein Freilauf. Für Experten: Die Übersetzung entspricht etwa 39 x 13. Für Laien: Damit muss man auch auf der Ebene ordentlich treten. Eine Bremse hat es auch: einen Gummistempel, der mit einem Hebels auf den Vorderreifen gedrückt wird.
Meine Mission beginnt ungelenk. Lenker packen, den linken Fuß in den Pedalhaken, treten, den rechten einfädeln, es rollt. Raus aus dem Ort, rechts ein See, links Wiesen. Man sitzt ein wenig eingepfercht, den Lenker fast an den Knien. Das soll daher kommen, weil die Böcke den alten Hochrädern nachempfunden waren – sagt der Besitzer. Marcel Kittel würde da nicht reinpassen.
Ohne Schaltung, ohne Gnade
Es geht etwas bergab, der Tritt wird leichter, schneller, immer schneller, zu schnell. Aufhören mit Treten ist nicht (Starrachse), also bremsen. Fingern nach dem Hebel, ziehen. Es quietscht, aber es bremst nicht. Mit ausgestellten Knien nagle ich am Fotografen vorbei. Mein Gott, was ist das für eine Bremse? Mäßig elegant und mit Panik schneide ich eine Linkskurve, es geht aufwärts, endlich. 100 Meter macht es Spaß, dann fließt Blei ins Bein. Nach einem Kilometer denke ich an Udo Bölts. „Quäl dich, du Sau“, hat er 1997 Jan Ullrich hier angepfiffen. Also weiter im Würgetritt. „Geht’s“, fragt der Fotograf aus dem Auto. „Klar“, lüge ich.
Nach drei Kilometern ist sicher: Mich sieht der Gipfel nicht im Sattel. Die Lungen tun’s noch, aber Zuckungen kündigen den finalen Muskelkrampf an. „Beißen“, brüllt der Fotograf. Was denkt der, was ich bin? Eine Bulldogge, Pottier? Contador? Nach sechs Kilometern ist Schluss, der Rest wird geschoben. Haben die damals auch gemacht, wenn nichts mehr ging. Die meisten sind aber hochgefahren, ohne Schaltung, ohne Gnade.
Das Fazit: Contador, Nibali? Schön und gut, mit dem Material von heute. Für mich gibt es jetzt aber nur noch einen Außerirdischen: René Pottier, den König des Ballon d’Alsace anno 1906.