Rio de Janiero. .
Bevor auch nur eine einzige Minute gespielt war im Viertelfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich, schien ein Duell längst schon verloren zu sein. Joachim Löw gegen Volkes Meinung, 0:1. Der Bundestrainer hatte sich gegen die Equipe Tricolore entschieden, alles, was zuvor für ihn bei dieser WM Richtigkeit besaß, über den Haufen zu werfen und seine taktische Aufstellung zu ändern.
Ist Löw umgefallen vor dem immer aggressiver vorgetragenen Druck der Öffentlichkeit? Oder hatte sich innerhalb von nur wenigen Tagen eine völlig konträre Meinung bei ihm breit gemacht – eine aber, die weniger von Überzeugungen geleitet ist, sondern viel mehr von Pragmatismus?
Die taktische Entscheidung
Nach dem 1:0-Sieg gegen Frankreich setzte Löw zur Erklärung an. „Irgendwie hatte ich das Gefühl, für dieses Spiel einen anderen Reiz zu setzen“, sagte der Bundestrainer. Die Analyse der Franzosen hätte im Vorfeld ergeben, „dass sie im Zentrum sehr kompakt stehen und dort wenig geht. Deshalb war es die Überlegung, mit Philipp über außen mehr Druck aufzubauen und mit Miroslav Klose einen Stür-mer zu bringen, der beide Innenverteidiger beschäftigt.“
Auch die Entscheidung gegen Mertesacker habe taktische Gründe gehabt: „Die Angreifer der Franzosen sind schnelle Leute. Ich hatte das Gefühl, dass Boateng und Hummels die richtigen Spieler dafür sind“, sagte Löw.
Bedeutet: Löw hat dem Pragmatismus Vorrang gelassen – und das war so nicht zu erwarten.
Wenn man so will, dann war Löw in den drei Wochen dieser WM so etwas wie der Barack Obama des Fußballs. Der Bundestrainer und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hatten zumindest die Gemeinsamkeit, völlig „tiefenentspannt“ zu sein. Dieses Wort benutzte Löw vor dem Viertelfinale gegen Frankreich, um seine Gemütslage zu beschreiben, und schob nach: „Das können sie mir wirklich abnehmen“.
Tiefenentspannt ist Obama, weil er in seiner zweiten Amtszeit als mächtigster Mann der Welt ausschließlich nach seiner Überzeugung handelt, ohne auf Volkes Meinung allzu große Rücksicht nehmen zu müssen.Er kann nicht mehr wiedergewählt werden – und wer von dieser Last befreit ist, macht das, was er für richtig hält.
Der Obama des Fußballs
Tiefenentspannt trat auch Löw auf, und man hatte den Eindruck, als wähne er sich in einer ähnlich komfortablen Lage: Er tat, was er für richtig hielt und pfiff auf Sympathiepunkte beim Fußballvolk – als würde es keine weitere Amtszeit mehr für ihn geben wird. Lahm spielt im Mittelfeld. Thomas Müller spielt als „falsche Neun“. Basta!
Selbst als der Druck nach dem schwachen Achtelfinale gegen Algerien immer größer auf Löw wurde, hielt er an seiner Linie fest. Er habe sich entschieden, Lahm ins Mittelfeld zu stellen, und dabei bleibe er „bis zum Schluss“, sagte Löw der „Zeit“. Eingewandt wurde, dass dieses Interview vor dem Algerien-Spiel geführt wurde. Das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass Löw und die Presseabteilung des DFB das Interview erst nach dem Algerien-Spiel autorisierten. Der Bundestrainer war also immer noch derselben Meinung, Tage vor dem Frankreich-Spiel.
Ob er nun im Halbfinale am Dienstag erneut auf Lahm als Rechtsverteidiger setzen werde, wurde Löw gefragt: „Ich weiß es noch nicht“, sagte er. „Vielleicht ist es unsere Stärke, dass wir taktisch flexibel sind. Seine eigene Fähigkeit zum Pragmatismus könnte ebenfalls dazu zählen.