Santo André. .

Thomas Müller sieht aus, als wäre er in eine krachende Rechte der Klitschkos gelaufen. Das Auge ist leicht geschwollen, darüber befinden sich Pflaster, die seine zugenähte Platzwunde zusammenhalten. Es ist offensichtlich: Diese WM hat Spuren hinterlassen, Spuren unterschiedlicher Art allerdings. „So ein Turnier kann schnell vorbei sein“, sagt Deutschlands Angreifer, der sich seine Verletzung im Spiel gegen Ghana bei einem Zusammenprall zugezogen hatte, vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen die USA am heutigen Donnerstag (18 Uhr/ZDF) in Recife. Der Verlierer könnte schon nach Hause fahren müssen. Was ist los, Deutschland? Angst vor den USA?

Wenn eines im Land der unbegrenzten Möglichkeiten stets doch begrenzt war, dann waren es die fußballerischen Möglichkeiten. Eishockey, Basketball und Football? ­Yeah, man! Das füllt Stadien, begeistert Massen, produziert Weltklasse. Soccer? Who cares, wen interessiert’s! Aber mittlerweile sind die Stadien voll, 18 000 beträgt der Schnitt in der gesamten Major League Soccer (MLS), das sind mehr als beim Eishockey in der NHL. Die Seattle Sounders, Klub des Großverdieners und bekanntesten Nationalspielers Clint Dempsey, bringen es gar auf 44 000 pro Spiel. Der Wandel schreitet voran, auch weil sich deutsche Erfahrung mit amerikanischer Mentalität paart.

Die rasante Entwicklung der Profiliga

Nationaltrainer Jürgen Klinsmann setzt bewusst auf einen deutschen Einfluss: Neben Co-Trainer Berti Vogts befinden sich fünf Spieler in seinem Kader, die in Deutschland geboren und groß geworden sind: der frühere Schalker Jermaine Jones, der Hoffenheimer Fabian Johnson, 2009 U21-Europameister an der Seite von Mats Hummels, Sami Khedira, Mesut Özil, Manuel Neuer und Jerome Boateng, Hertha-Profi John Anthony Brooks, Bayern-Youngster Julian Green und der zukünftige Frankfurter Timothy Chandler. In Deutschland ausgebildete Fußballer, die den höheren Ansprüchen Klinsmanns gerecht werden: „Wir lernen, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Wir sind nicht mehr das reagierende Amerika, das defensiv steht und hofft, mit einem Konter oder einer Ecke zum Erfolg zu kommen.“

Es dauerte allerdings ein bisschen, ehe die Amerikaner mit dem Deutschen warm wurden. Klinsmann ließ sich vor dem Turnier zu der Aussage hinreißen, dass man von seinem Team nicht den Titel erwarten dürfe. Das Alles-ist-möglich-Land war empört von so viel deutschem Pessimismus. „Brauchen wir tatsächlich einen deutschen Trainer, der glaubt, dass David Hasselhoff ein Sänger ist“, wurde im Fernsehen gestichelt. Die Antwort lautet: offenbar ja.

Rekordquoten im US-Fernsehen

Klinsmann tut dem US-Fußball gut und die Erfolge tun ihm gut. 24,8 Millionen Menschen schalteten beim letzten Spiel den Fernseher ein. Rekord. Sie sahen, wie die Mannschaft Sekunden vor Spielende den vorzeitigen Einzug ins Achtelfinale verspielte (2:2). Und das in einer Gruppe mit Portugal und Deutschland.

Oliver Bierhoff sitzt neben dem ramponierten Müller. Der Nationalmannschafts-Manager registriert, dass sich etwas tut in Amerika. „Jürgen hat eine Philosophie. Er setzt auf junge, aggressive Spieler, auf eine gute Disziplin und Athletik. Die halten nicht mehr Sicherheitsabstand, die gehen drauf auf den Mann“, skizziert er, und für einen Moment könnte man sich beinahe Sorgen machen um die armen deutschen Fußballer, die diesen amerikanischen Mentalitätsmonstern ausgesetzt werden. Aber Bierhoff fängt das Gefühl schnell wieder ein. Er weiß, dass alles für die deutsche Mannschaft spricht. Selbst eine Niederlage brächte der Elf nicht zwangsläufig das historische Vorrunden-Aus. „Uns beunruhigt das überhaupt nicht. Wir haben es in der eigenen Hand, Gruppenerster zu werden.“

Verglichen mit anderen Spitzenteams ist das eine erstaunliche Leistung. Die Spuren, die dieses Turnier in Europa hinterlassen hat, gleichen einer Schneise der Verwüstung. Mit Spanien und Italien haben sich zwei Teams schon verabschiedet, die Deutschland bei den vergangenen vier großen Turnieren auf dem Weg zum Titel zuverlässig im Weg standen. Bierhoff sagt: „Wir sind auf Kurs.“ Mehr ist in Sicht. „Wir können Weltmeister werden.“ Thomas Müller nickt dazu.