Winterberg. .

Stille. Plötzlich herrscht absolute Stille. Kein ­Rattern mehr wie in einer Achterbahn, kein Fahrtwind, der um den Helm pfeift. Ich stehe. Besser gesagt: Ich liege. Nur etwas höre ich laut und deutlich: Ich atme. Immerhin. Es ist ein hektisches Atmen am Ende eines rasanten Ritts. Ein ­Atmen, welches das Visier des Helmes binnen Sekunden komplett beschlagen lässt.

Das war er also, der Skeleton-Selbstversuch.

Noch bevor sich mein Puls beruhigen kann, ist die Stille Geschichte. „Falk! Der Wahnsinn. Bleib so! Den Kopf etwas höher.“ Fotografen-Denke, denke ich. Soweit Denken denkbar ist in diesem Moment. Den Kopf höher? Keine Chance. Ich liege mit dem Kopf voran bäuchlings auf dem Schlitten, die Nackenmuskulatur hat kurzzeitig den Dienst versagt. Die Arme pressen sich starr an den Körper, die Hände wollen die Haltegriffe auf Höhe der Hüfte einfach nicht loslassen. Nur die Fußspitzen, sie drücken sich in den Boden.

Knapp zwei Stunden sind an der Bobbahn in Winterberg mittlerweile vergangen, knapp zwei Stunden mit Uwe Schupp, Skeleton-Trainer am hiesigen Stützpunkt. Er trainiert mit seiner Gruppe an diesem späten Nachmittag eines kalten und diesigen Dienstags, der die wahre Dimension dieser im warmen Redaktionsbüro geborenen Idee lange Zeit verhüllt. Sie sprinten am Start los, die Jungs und ­Mädels in ihren eng anliegenden Rennanzügen. Sie schieben ihre Schlitten mit der linken und rechten Hand immer schneller in die Bahn, springen gekonnt in die Bauchlage – und verschwinden kopfüber im Nebel, der rund um die Kappe herrscht. Einzig dieses Rattern klingt aus dem Eiskanal zum Start hinauf.

„Die Bahn ist insgesamt knapp 1400 Meter lang“, erklärt Uwe Schupp, „die Spitzenleute erreichen eine Geschwindigkeit von rund 120 km/h.“ Und sie sind nach meist einer Minute durch 14 Kurven und die Zeitnahme gerast.

Ist das nicht mega-gefährlich? So schnell, so ungeschützt? Schupp erahnt diese Fragen. Und deshalb sagt er vorausschauend: „Im Vergleich mit Bob und Rodeln passieren im Skeleton die wenigsten Unfälle. Ich habe in meiner langjährigen Karriere noch keinen schlimmen Unfall erlebt.“ Fast auf Bestellung sprintet Luca los.

Luca ist neun Jahre jung, neun Jahre! Und somit ist er der, der mir an diesem Tag die meiste Hoffnung gibt. Ein Neunjähriger rast den Eiskanal hinunter und kommt unbeschadet an. Einmal, zweimal – ich will nicht hochnäsig sein, aber das sollte ein 37-Jähriger allemal schaffen. Zudem Anfänger oder Wagemutige wie ich aus dem so genannten Veltins-Kreisel starten und etwa die Hälfte der Strecke absolvieren.

Schwierige Talentsuche

Uwe Schupp fällt bei Lucas Anblick etwas anderes ein: „Es ist echt schwierig, Talente hier ins Hochsauerland zu bekommen.“ Natürlich bemühen sich Vereine wie der BSC Winterberg, die RSG Hochsauerland oder der BRC Hallenberg und werben in der Umgebung um Nachwuchs und für das Sport-Internat. Wer sportlich, talentiert, motiviert und nervenstark ist, dessen Chancen stehen ob der überschaubaren Konkurrenz sehr gut, nicht nur durch die Reisen zu den verschiedenen Bahnen viel von der Welt zu sehen, sondern auch sportliche Erfolge zu erreichen.

Es zieht an der Kappe. Die Temperatur sinkt – und mein anfänglicher Mut auch. Weil das Probeliegen auf dem rund 30 Kilogramm schweren Anfängerschlitten im Eiskanal den Ernst der Lage mehr und mehr offenbart. Links eine Eiswand, rechts eine Eiswand. Der Abstand von der Nasenspitze zum eisigen Untergrund: gefühlt null Zentimeter. Einziger Schutz: Ein ziemlich enger kleiner Helm.

„Keine Panik“, sagt Uwe Schupp, „der Schlitten kommt auf jeden Fall an.“ Ja, ja, denke ich, der Schlitten. Mit mir oder alleine? „Mit einem Golf schafft es auch jeder zum Bäcker, mit einem Formel-1-Rennwagen eher nicht“, sagt er.

Wenig später nimmt mein Golf Fahrt auf, weil Schupp mich nicht nur loslässt, sondern zuvor angeschoben hat. „Ich habe ihn Geschwindigkeit spüren lassen“, erzählt er später Jens Morgenstern, dem Präsidenten des BSC Winterberg. Die erste von sieben Kurven verleitet mich zu einem zufriedenen Grinsen, die zweite sorgt für verstärkte Muskelspannung, die dritte entlockt mir zwei, drei kurze Atemstöße und die erste Selbstanfeuerung: „Komm, Junge! Komm.“

In Kurve zwölf etwas zu hoch

Denn der Golf rast wie ein Formel-1-Renner. Meine ich zumindest. Die Profis würden durch Gewichtsverlagerung, durch den Einsatz der Füße oder des Kopfes ­locker lenken. So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Jede Korrektur kostet schließlich Zeit. Ich lasse einfach geschehen, weil ich ohnehin nicht sehe, wohin mich meine Fahrt führt. Während dieser rattert es wie in einer Achterbahn, fühlt es sich ein wenig an wie in einer Achterbahn. Nur dass in einer solchen selbst beim Looping die Gefahr deutlich geringer ist, aus den Sitzen zu fallen. Mein Verbleib auf dem Schlitten scheint mir in einer Kurve kurzzeitig äußerst ungewiss und pures Glück zu sein.

„Du warst in der Zwölf etwas zu hoch“, sagt Uwe Schupp ohne ­Mienenspiel zu dieser Situation. Etwas? Na dann.

Nach handgestoppten 30,04 Sekunden und einer amtlichen Spitzengeschwindigkeit von 94 km/h sause ich im Auslauf ein kurzes Stück bergauf. Was folgt ist: Stille. Atemlosigkeit. Und Augenblicke später ein wahnsinniges Glücksgefühl. Der Rausch der Geschwindigkeit. Sotschi, ich komme.

Oder auch nicht. Zusammen dürfen Schlitten und Athlet bei den Männern zum Beispiel nur 115 ­Kilogramm wiegen. Sie kehrt ­zurück, diese Stille…