Bremen. . In Deutschland kennt Mansur Faqiryar, den Keeper des VfB Oldenburg, kaum jemand. In seiner Heimat Afghanistan verehren ihn die Menschen. Mit seinen Paraden für die Nationalmannschaft wurde zum Volkshelden.
Am Tag, als sein erstes Leben endet, ist Mansur Faqiryar noch ein Säugling.
Später, mit 23, viel später also holt ihn dieses Leben wieder ein. Für Mansur Faqiryar ist es eine Rückkehr in eine fremde, eine unwirtliche Welt. Er soll zum ersten Mal für sein Heimatland Fußball spielen, er soll jetzt zum ersten Mal im Tor der afghanischen Nationalmannschaft stehen. An diesem Tag liegt Mansur Faqiryar krank im Bett. Der Mann aus Bremen verträgt das ungewohnte Klima nicht.
Heute ist Mansur Faqiryar 27 Jahre alt, und in Afghanistan ist er ein Held. Ein Volksheld. Er mag dieses Wort nicht, er möchte nicht einmal, dass man es schreibt. Aber es fällt ihm kein anderes Wort ein, um zu erklären, was die Afghanen in ihm sehen, und das dürfte trotz aller Bescheidenheit daran liegen, dass der Begriff den Kern der Sache trifft: In seiner Heimat ist Mansur Faqiryar Volksheld.
In Deutschland ist er Torwart.
Faqiryar spielt seit vier Jahren für den Regionalligisten VfB Oldenburg, er ist einer der Nachfolger von Jörg Butt, der es aus Oldenburg bis zu Bayern München geschafft hat – und den Faqiryar nur aus dem Fernsehen kennt. Er studiert in Bremen Wirtschafts-Ingenieurwesen, er schreibt an seiner Abschlussarbeit, und später wird er erzählen, dass er damit eines Tages sicherlich etwas Sinnvolles in Afghanistan tun könnte.
Flucht vor dem Krieg
Aber zunächst hat er sich zum verabredeten Treffpunkt in einem Café in der Bremer Innenstadt verspätet. Weihnachtszeit, die Menschen schieben sich dicht gedrängt durch die Innenstadt. Als er gemerkt hat, dass es mit der Zeit knapp wird, hat Mansur Faqiryar angerufen und sich entschuldigt. „Meine deutsche Seite“, sagt er lächelnd, „ich bin ein Pünktlichkeitsfanatiker.“
Mit seiner afghanischen Seite hatte Faqiryar zwei Jahrzehnte lang nichts zu tun. Seine Eltern flohen 1987 vor dem Bürgerkrieg aus dem Land, ihr Sohn wuchs in Bremen auf. Wenn er spricht, singt der norddeutsche Akzent mit. Als Fußballer landete er beim VfB Oldenburg, man träumt dort von der Rückkehr in den Profifußball und Mansur Faqiryar träumt mit, er ist der Kapitän. Dass sich ein ganz anderer Traum erfüllen sollte, konnte er nicht ahnen.
Der Traum begann mit einem Anruf aus Hamburg. Am Telefon war Mohammed Saber Rohparwar. In Afghanistan war Rohparwar eine Art Gerd Müller, er ist eine Legende. In Hamburg fährt er Taxi, nebenbei sucht er nach Talenten für den afghanischen Verband. Rohparwar überredete Faqiryar, für das Heimatland, das er gar nicht kannte, zu spielen. 2009 flog der Torwart nach Malaysia, um seinen Einstand zu geben, um Mitspieler und Trainer kennen zu lernen. Faqiryar lag dann eine Woche lang krank im Bett: „Wir hatten 35 Grad Hitze dazu um die 90 Prozent Luftfeuchtigkeit. Überall liefen die Klimaanlagen – nichts davon war ich gewohnt. es hat mich schon am ersten Tag umgehauen.“
Er kehrte zurück nach Deutschland, vielleicht ein bisschen ernüchtert, aber Faqiryar fühlt eben nicht nur als Deutscher: „Ich bin auch Afghane“, sagt er über sich, „ein stolzer Afghane.“ Die Bürgerkriege haben die Familie auseinander gerissen, die Großmutter lebt immer noch in Kabul, viele Verwandte in Pakistan, die Eltern, seine beiden Schwestern und der Bruder mit ihm in Bremen. Faqiryar nennt das seine afghanische Seite: „Familie bedeutet mir alles.“ Irgendwann sagte sich Mansur Faqiryar: Afghanischer Nationaltorwart, versuch’s noch mal, das musst du machen.
Als Elfmetertöter unsterblich gemacht
So landete er im September beim Südasien-Cup in Nepal. Ein kleines Turnier, die besten Mannschaften des Kontinents sind gar nicht dabei, aber Afghanistan war trotzdem krasser Außenseiter, die Kriege haben auch den Fußball gründlich zerrüttet. Vermutlich wäre im Halbfinale gegen Gastgeber Nepal ohne den Torwart aus Deutschland auch schon Schluss gewesen. Doch Faqiryar rettet seinem Land das 1:0, er hält alles, auch einen umstrittenen Elfmeter, und als er ihn gehalten hat, lässt der Unparteiische den Strafstoß wiederholen. Faqiryar wehrt auch den zweiten Schuss ab. Was er da noch nicht ahnt: In Afghanistan strömen die Menschen jubelnd auf die Straßen und feiern ihren Landsmann, den Torwart aus Oldenburg.
Es klingt hoch gegriffen, aber die Szene wird im Bruchteil eines Tages zum Mythos, zu einem afghanischen 1954: Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen . . . Im Finale wiederholt sich die Geschichte: Afghanistan spielt gegen Indien, Afghanistan ist das schwächere Team, aber Faqiryar hat das Gefühl, dass elf Spieler neunzig Minuten lang mit allem für ihr Land kämpfen, was sie zu bieten haben. Am Ende hat Indien 30 Torschüsse und Afghanistan keine fünf, aber die Afghanen gewinnen mit 2:0, weil dieser Torwart wieder alles gehalten hat.
Als die Spieler nach Kabul zurück kehren, empfängt sie Staatspräsident Hamid Karsai am Flughafen. Instinktiv erkennt er, was dieser Turniersieg für das Land bedeutet. Es ist ein Donnerstag, Karsai ruft ihn zum Feiertag aus und sagt zu Faqiryar in die TV-Kameras: „Was Du mit Deinen gehaltenen Elfmetern geschafft hast, haben wir Politiker in zwölf Jahren mit Milliarden von US-Dollar nicht geschafft.“
Zehntausende jubeln der Mannschaft zu
Als die Mannschaft durch Kabul fährt, weiß Faqiryar, was sein Präsident meint: Es geht um mehr als Fußball. Zehntausende Menschen, die ein Jahrzehnt lang Leid und Elend gesehen haben, jubeln dem Konvoi der Nationalelf zu, die Menschen hängen an den gepanzerten Fahrzeugen, wer kann, küsst die Hände eines Viertliga-Torwarts aus Norddeutschland. Es geht um Selbstwertgefühl und Zusammengehörigkeit. Mansur Faqiryar sagt heute, drei Monate später, über diese Augenblicke, dass er nichts sagen kann: „Ich suche immer noch nach den richtigen Worten.“
Noch am Abend muss er zurück, er fliegt über Dubai nach Hamburg, der VfB Oldenburg spielt am Freitag in Cloppenburg um Regionalliga-Punkte. Mit Konfetti aus Kabul im Haar sitzt Faqiryar in Cloppenburg auf der Bank, er ist zu überdreht und zu müde zu, um spielen zu können. Sein VfB gewinnt 5:2, nach dem Spiel ruft Hamid Karsai an, Faqiryar soll zurück kommen. Weil er – und da ist wieder dieses Wort – ein Volksheld geworden ist. Der Staatschef braucht ihn, am Tag danach trifft Faqiryar in Kabul ein und wird von Empfang zu Empfang gereicht.
Mansur Faqiryar nippt jetzt an seinem Cappuccino, dann spricht er lange über seine Eltern. Wie das gewesen sein muss, die Heimat zu verlassen, zu fliehen, getrieben von Angst und Hoffnung auf ein besseres Leben. Wie dankbar er sei für dieses zweite Leben voller Möglichkeiten, das ihm die Eltern geschenkt haben, als er ein Säugling war.
Dann geht er. Mansur Faqiryar taucht ein ins Gewühl der Bremer Innenstadt. Niemand, der den Held von Kabul erkennen würde.