Essen. Ist die deutsche Leichtathletik eine dopingfreie Zone? Wie viele Medaillen kann das deutsche Team bei der Weltmeisterschaft in Berlin holen? Herbert Czingon, Cheftrainer Field, bezieht im Interview Stellung.
Herbert Czingon ist seit 2008 gemeinsam mit Rüdiger Harksen Cheftrainer der Leichtathleten. Czingon kümmert sich als Cheftrainer „Field“ des Deutschen Leichtathletik-Verbandes um die technischen Disziplinen. Im Interview spricht der 57-Jährige über deutsche Medaillenchancen bei der Weltmeisterschaft in Berlin (15.-23. August), Problemdisziplinen und dopingfreie Zonen.
Sie besitzen keinen Eintrag in der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Was sagt das über Ihren persönlichen Bekanntheitsgrad aus?
Herbert Czingon: Ich glaube nicht, dass ein höherer Bekanntheitsgrad mir bei meiner täglichen Arbeit helfen würde. Ich bin nicht in der Position, dass ich die Verbandspolitik darstellen muss. Dort, wo ich präsent bin, kennt man mich auch.
Was haben Sie seit Dienstbeginn als Cheftrainer Field verändert?
Herbert Czingon: Rüdiger Harksen und ich wollen die Kommunikation zwischen Heimtrainern, Bundestrainern und Athleten verbessern, um sämtliches verfügbare Know-how in den einzelnen Disziplinen auf hohem Niveau auszutauschen. Meine Vision ist die Entwicklung einer deutschen Schule des Hochsprungs, des Weitsprungs oder des Speerwurfs, die international konkurrenzfähig ist. Wir versuchen zudem, mit klaren Maßstäben an die Athleten heranzutreten und zu kommunizieren, warum sie wie hoch gefördert werden. Da gab es in der Tat der Vergangenheit oft Missverständnisse.
Sie wollen, dass Deutschland in technischen Disziplinen international wieder den Ton angibt. Wird das in Berlin gelingen?
Herbert Czingon: In einzelnen Disziplinen wie dem Speerwurf der Männer oder dem Diskuswurf der Frauen läuft es derzeit nicht so gut. Wir haben es nicht geschafft, die verfügbaren Nachwuchskräfte so zu entwickeln, dass wir Kontinuität erreichen. Da haben wir Boden verloren. Dafür sind wir zum Beispiel im Weitsprung der Frauen, im Zehnkampf oder im Hürdensprint deutlich weiter gekommen.
Sie haben ja auch vor der Hallen-EM einen Tipp abgegeben, für den Sie belächelt wurden. Der Erfolg gab Ihnen recht, Deutschland gewann in Turin zehn Medaillen. Wie wird das deutsche Team in Berlin abschneiden?
Herbert Czingon: Ganz, ganz schwer zu sagen. Einen Tipp möchte ich nicht abgeben. Egal welche Zahl ich sage, es bleibt spekulativ. Ich bin kein Visionär. Berlin wird besser als die Olympischen Spielen in Peking, sicher. Aber ich bin skeptisch, ob Berlin die sieben Medaillen bei der WM 2007 in Osaka übertrifft. Es könnte etwas mehr Medaillen geben, dafür dürfte es aber keine Ausfälle geben. Entscheidend ist für uns wie immer, dass jeder einzelne Athlet in Berlin möglichst nahe an seine persönliche Bestleistung herankommt oder sie übertrifft.
Verstärkt die WM im eigenen Land den Druck auf die Athleten?
Herbert Czingon: Nein. Die Heim-WM motiviert unglaublich und wird einen „Wohnzimmer-Effekt“ haben, denn das Publikum steht hinter uns. Der Fortschritt ist in vielen Disziplinen schon jetzt spürbar. Allerdings sind die Verletzungen von Zehnkämpfer Michael Schrader oder Kugelstoßerin Petra Lammert schwere Rückschläge. Für sie haben wir nicht immer adäquaten Ersatz.
Top-Athleten wie die Speerwerferin Christina Obergföll kritisieren die geringe WM-Vermarktung und die hohen Eintrittspreise.
Herbert Czingon: Ich bin mir sicher, dass Profis die WM organisieren und wissen, wie sie alles bis zur WM optimieren können. Davon muss ich zumindest jetzt erst einmal ausgehen. Auf jeden Fall haben die Athletinnen und Athleten dieses Jahr mit guten Leistungen schon in der Hallensaison und zuletzt bei der Team-EM und bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm ihren Teil zur bestmöglichen Vorbereitung beigetragen.
Sie gehen davon aus, dass in vielen Staaten nicht sauber gearbeitet wird, insbesondere in ehemaligen Ostblock-Staaten. Führt das bei deutschen Athleten zu einer Resignations-Haltung nach dem Motto: Wir sind schlechter, weil die anderen dopen?
Herbert Czingon: Nein. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, um sich zu steigern: Erstens die Leistungs- und Regenerationsfähigkeit der Organe künstlich zu manipulieren. Oder zweitens die Trainingsmethoden so zu variieren, dass der Athlet sich steigert. Der zweite Weg ist unser Weg. Wir haben mit Sebastian Bayer wieder einen 8,50-Meter-Springer. Aber wir haben natürlich keinen 9,80-Sekunden-Sprinter.
Und kann das deutsche Publikum da unterscheiden? Ist es gewillt, eine Bestleistung von Sprinter Tobias Unger zu honorieren, auch wenn er bei der WM im Halbfinale ausscheidet?
Herbert Czingon: Für den unbefangenen Zuschauer ist das sicherlich schwer zu verstehen. Aber unsere Botschaft an die Gesellschaft ist, dass wir fair und mit absolut sauberen Mitteln arbeiten. Wir wissen, dass wir in der Lage sind, sauber Weltklasse-Leistung zu erzielen, auch weil wir den Know-how-Vorsprung haben.
Arbeiten deutsche Leichtathleten wirklich zu 100 Prozent sauber?
Herbert Czingon: Das weiß ich nicht. Ich hoffe, dass wir in den kommenden Jahren von einem größeren Dopingfall verschont bleiben. In den letzten Jahren stand die Leichtathletik in anderen Ländern oder ganz andere Sportarten im Mittelpunkt der Dopingdiskussion. Die Versuchung mag in dem einen oder anderen Fall groß sein. Unsere Botschaft aber ist: Wir brauchen das nicht.
Ist das Finale über 100 Meter der Männer ohne Doping erreichbar?
Herbert Czingon: Auch das weiß ich nicht. Die Frage stellt sich uns nicht. Dafür muss man knapp unter zehn Sekunden laufen. Ich sehe derzeit keinen deutschen Sprinter, der das Leistungsvermögen hat.
Wie nervenstark muss ein deutscher Leichtathletik-Cheftrainer sein?
Herbert Czingon: Erzielte Ergebnisse stimmen oft nicht mit dem gewünschten Ergebnis überein. Als Cheftrainer muss ich bei negativen Ergebnissen die positiven Aspekte hervorheben, bei Spitzenleistungen muss ich auf die Folgen hinweisen, die später belasten können. Gute und schlechte Leistungen müssen ins rechte Licht gerückt werden. Die Komplexität der Leichtathletik mit ihren 47 olympischen Disziplinen erschwert den Vergleich untereinander sehr, da gibt es oft Diskussionen. Dafür brauche ich tatsächlich gute Nerven.