Essen/Peking.. Chinas Tischtennisspieler(Innen) sind nicht nur bei der derzeitigen Team-WM in Dortmund immer die Besten: Hunderte von Talenten werden in den staatlich geförderten Tischtennis-Schulen gesammelt - und gedrillt.

Die Sportschule Shi-Cha-Hai liegt mitten in Peking an einem See. Die 600 Kinder, von denen die jüngsten sechs Jahre alt sind, sehen von diesem See nicht viel. Jeden Morgen um 6.30 Uhr ist Wecken. Danach geht ihr Tag bis 19 Uhr. Um 19 Uhr gibt es Abendessen. Nicht eine Minute eher, nicht eine Minute später. Die Kinder haben einen Zwölfeinhalbstunden-Tag.

Schon vor dem Schulunterricht beginnt die erste Trainingseinheit. In Shi-Cha-Hai gibt es Trainingshallen für zehn verschiedene Sportarten. Turnen und Karate haben die größten Räume. Die Tischtennis-Spieler müssen die Treppe hinunter in den Keller. Dort stehen 20 blaue Tischtennisplatten nebeneinander, die Glühbirnen werfen ein schummeriges Licht. Die Schüler der Tischtennis-Klasse hämmern sich die Bälle zu, das Klackklackklackklack klingt wie das Feuer eines Maschinengewehrs.

Ohrfeigen für schlechte Leistungen

Die Decke hängt tief, die Gedanken können nicht hochfliegen. Vermutlich sollen sie es auch gar nicht, denn der chinesische Sport lebt noch von Autorität. Bei den Olympischen Spielen in Athen hat im Jahr 2004 ein Trainer eine Gewichtheberin nach einem verpatzten Versuch geschlagen. Die Gewichtheberin nahm die Ohrfeige ohne Gegenwehr hin. Es sah aus, als wäre es nicht die erste Ohrfeige.

Die chinesischen Tischtennis-Asse, die bei der Team-WM in Dortmund antreten, sind die Nummer eins, die Nummer zwei, die Nummer drei und die Nummer vier der Weltranglisten. Bei den Männern und bei den Frauen. Sie alle kommen aus dem Keller einer Sportschule.

Denn für China war Tischtennis einer der Schlüssel zum Weg in die Welt. 1959 gewann Jung Kuo-Tan bei der WM – auch damals in Dortmund – die erste Goldmedaille für China bei großen Titelkämpfen überhaupt. Das isolierte Land stand plötzlich im Mittelpunkt.

Tischtennisnachwuchs zum Erfolg verdammt

Aus dem Reich der Mitte wurde das Reich der Mittel, die von diesem Augenblick an auch in den Sport flossen. Genau das ist auch der Hintergrund, warum die Eltern ihre Kinder aus der Provinz in die großen Sportschulen in den Städten ziehen lassen. Die Kinder leben in Sechsbettzimmern und fahren nur noch zweimal im Jahr zu ihren Eltern nach Hause. Der Staat zahlt für jedes Kind umgerechnet 3000 Euro als Stipendium für Unterkunft und Essen an die Schule. Kinder, die nicht das Talent oder den eisernen Willen haben, spuckt das System wieder aus und schickt sie zurück in die Provinz.

Zhan Jike musste nicht zurück. Er kam durch. Der Einzel-Weltmeister hatte nach dem gewonnenen Finale von 2011 in Rotterdam einen Auftritt, der den Wandel im chinesischen Sport andeutete. Der 24-Jährige riss sich das Trikot über der Brust hollywoodreif in zwei Teile und jubelte mit freiem Oberkörper. Jeder einzelne Muskel wie aus Marmor gehauen.

Tischtennis-Ass Boll sieht positive Entwicklung

Timo Boll, die deutsche Nummer eins im Tischtennis und die Nummer sechs der Welt, kennt den neuen Zwiespalt, der auf den chinesischen Sport zukommt. Er trainiert und spielt seit mehr als zehn Jahren regelmäßig in China. „Die Spieler sind zuletzt viel offener geworden“, sagt er. „Sie schotten sich nicht mehr ab, sie machen Scherze und sie lernen Englisch.“

Es sind die ersten Ansätze. In Dortmund achtet die 54-köpfige Delegation aus China aber noch darauf, keine Interviews auf Englisch zu geben. Trainer Liu Guoliang spricht nach den Spielen in die Kamera des chinesischen Fernsehsenders CCTV, der mit einem eigenen Team angereist ist. Zhan Jike und Ma Long, die Nummer eins der Welt, lassen sich derweil im Gang der Westfalenhalle mit Fans fotografieren. Dann zückt die Truppe ihre Handys und marschiert geschlossen zum Kleinbus, der sie zurück ins Hotel fährt.

Kein Gesprächs-Termin im Hotel. Man müsse sich auf die WM konzentrieren. Danach aber gerne. Vielleicht. Wenn nicht der Flieger schon wartet.

Der Westen importiert

Viele Nationen lassen sich von der chinesischen Mauer aber nicht abschrecken. Die Deutschen haben sich zum Beispiel Zhu Xiaoyong als Assistenztrainer eingekauft. Im Damen-Team schlagen Wu Jiaduo und Zhenqi Barthel für Deutschland auf. Der Topspieler Österreichs heißt Chen Weixing, der von Spanien He Zhiwen. In der Industrie kopiert China gerne im Westen, im Tischtennis bedient sich der Westen gerne bei den Chinesen.

Es gibt dort schließlich auch genug Nachwuchs. Die Schüler von Shi-Cha-Hai stehen schon wieder seit 6.30 Uhr an den 20 Tischen im Keller.