New York/Washington. Jeremy Lins Erfolgsgeschichte - vom Bankwarmhalter zum Star auf dem Basketball-Broadway - trifft den Nerv der leicht zu begeisternden Amerikaner. Der Sohn taiwanesischer Einwanderer ist nationales Sport-Gesprächsthema. Mit den New York Knicks fährt Lin einen Sieg nach dem anderen ein.
Basketballer mögen sie so gern wie Fußpilz. Sprints zum Aufwärmen vor Publikum, auch wenn sonnenklar ist, dass man sowieso nur auf der Ersatzbank sitzt. Als die New York Knicks im Januar in Washington gegen die Wizards anzutreten hatten, absolvierte Jeremy Lin die von einem griesgrämigen Assistenztrainer beäugte Laufarbeit, während die verwöhnten Stars der bis dahin unterirdisch spielenden Mannschaft aus Manhattan gelangweilt aus der Kabine schlurrten und gähnend Autogramme schrieben.
Was auffiel, war seine stoische Besessenheit. Wie der Duracell-Hase spurte der 23-jährige an der Seitenlinie des Spielfelds rauf und runter, feixte mit den eintrudelnden Fans und Journalisten („Fangt mich doch“) und setzte sich danach schweißgebadet auf die Bank. Seine Batterien müssen immer noch randvoll sein.
Mit der "Lin-Sanity" ging es los
Der Sohn taiwanesischer Einwanderer ist seit zehn Tagen nationales Sport-Gesprächsthema. Los ging es mit der „Lin-Sanity“, dem „Lin-Wahnsinn“, als Knicks-Trainer Mike D’Antoni wegen des Ausfalls seiner Cracks Carmelo Anthony und Amar’e Stoudemire die Start-Aufstellung am 4. Februar neu formatieren musste. Lin, der über die Golden State Warriors und Houston Rockets für kleines Geld zu den Knicks verschoben wurde und die ersten Monate bei seinem Bruder in der Lower East Side auf der Couch schlief, bekam seine Chance. Und lässt sie seither nicht mehr los. Sechs Spiele. Sechs Siege. Einer spektakulärer als der andere. Und alle hautnah verbunden mit dem umwerfenden Herrn Lin, der kaum lacht und doch ständig in sich hineinschmunzelt wie weiland Bruce Lee, kurz bevor er mit einem eleganten Fallbeil-Tritt einen Gegner von den Beinen holte.
So auch am Dienstagabend. Halbe Sekunde vor Schluss. Es steht 87:87. Crunch-Time. Alles-oder-nichts-Zeit. Der 1,91 Meter kleine Aufbauspieler schaut sich kurz zu seinem Trainer um. Dann nimmt er alle Verantwortung auf sich und den Toronto Raptors mit einem lupenreinen Drei-Punkte-Wurf jede Hoffnung. 90:87. Ende. Wahnsinn? Und ob. Zufall? Eher nein. Killer-Würfe kurz vor Toreschluss hatte Lin zuvor schon gegen Los Angeles und Minnesota gezeigt. Und nicht nur das. In sechs Spielen hat der Absolvent der Elite-Universität Harvard insgesamt über 150 Punkte geworfen; mehr als Michael Jordan, Larry Bird, Allen Iverson oder Shaquille O'Neal und andere Titanen der NBA in der gleichen Situation. Auf seinem Siegeszug ließ der gläubige Christ, der ähnlich wie der wegen seiner tiefen Religiösität bekannt gewordene Football-Quarterback Tim Tebow, vor allem dem lieben Gott zu Ehren spielt, zuletzt Multi-Millionäre wie die Los Angeles Lakers-Ikone Kobe Bryant in den Schatten gestellt.
Experten taxieren Marktwert auf 14 Millionen
Lins Vertrag ist mit 800 000 Dollar pro Jahr dotiert. Experten taxieren seinen Marktwert heute auf mindestens 14 Millionen und fragen sich, welcher Pflaumenaugust unter den hoch bezahlten Scouts der NBA so blind war, das Potential des schmächtigen Wirtschaftswissenschaftlers zu übersehen.
Lins Erfolgsgeschichte - vom Bankwarmhalter zum umjubelten Star auf dem Basketball-Broadway - trifft den Nerv der furchtbar leicht zu begeisternden Amerikaner. Sein Twitter-Konto füllt sich von Tag zu Tag mit Tausenden neuen „Verfolgern“. Sein Trikot mit der Nr. 17 ist der im Moment begehrteste Fan-Artikel. Eintrittskarten für die Knicks, die plötzlich Playoff-Chancen haben, sind doppelt so teuer geworden. Die Zeitungen analysieren jeden seiner Spielzüge, bringen Fotos in Starschnitt-Größe und Tag für Tag neue Wortspiele.
Hoch im Kurs war am 14. Februar, dem Tag der Liebenden und des Erfolgs in Toronto, na was wohl: „VaLINtines Day“. Die Hysterie breitet sich von der Knicks-Heimstätte im Madison Square Garden tsunamiartig übers Land aus. Und hat inzwischen China erreicht. Im Riesenreich, wo die NBA auf 300 Millionen Fans zählen kann, wird Lin, obschon Taiwanese, als Mao unter den Körben verehrt. Alles großen TV-Sender in den USA reißen sich um Interviews. Sie kriegen (noch) keine. Der umwerfende Herr Lin weiß, wie schnell sein Märchen wieder vorbei sein kann. Dann warten wieder diese blöden Sprints zum Aufwärmen auf ihn.