Essen. Der SC Eintracht Hamm war in den 80er Jahren einer der erfolgreichsten Leichtathletik-Klubs – dank seiner Sprinterinnen. Doch ihre Zeiten und Rekorde waren das Ergebnis von Stromba und Anavar, beides männliche Steroide. Der Doping-Missbrauch wurde vom System gestützt.

Westdeutschland, Ende der 80er Jahre: Zwei Leichtathletik-Trainer füttern sechs Sprinterinnen jahrelang mit männlichen Hormonen. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) weiß davon, lässt es aber geschehen. Die Trainer fliegen auf, werden verurteilt – und arbeiten längst wieder im Sport. Ein Skandal? Oder das Recht auf eine zweite Chance? Eine Spurensuche.

Der SC Eintracht Hamm war in den 80er Jahren einer der erfolgreichsten Leichtathletik-Klubs. Ein Provinzklub im Fokus der Öffentlichkeit – dank seiner Sprinterinnen. Doch ihre Zeiten und Rekorde waren das Ergebnis von Stromba und Anavar, beides männliche Steroide. Das Amtsgericht Hamm verurteilte die beiden Hammer Trainer Jochen Spilker und Hans-Jörg Kinzel im Jahr 1994 „wegen Inverkehrbringens von Fertigarzneimitteln entgegen § 21 des Arzneimittelgesetzes ohne Zulassung“ zu Geldstrafen. Wen das Gericht nicht bestrafte: Ärzte, Funktionäre und Politiker.

Doping war in Westdeutschland jahrzehntelang vom System gestützt. Zu diesem Ergebnis gelangt die jüngst veröffentlichte wissenschaftliche Studie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute“ von Sporthistorikern aus Berlin und Münster, die im Auftrag des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) – und mit Förderung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BiSp) – die Betrugspraktiken westlich der Mauer untersuchen.

Einer der beiden Hammer Trainer, der geständige Hans-Jörg Kinzel, bestätigt diese Einschätzung im Gespräch mit dieser Zeitung. „Das war zu 100 Prozent gedeckt, von der Verbandsführung bis ins Innenministerium. Ständig kamen die Sprüche: Wir wollen Medaillen, ihr wisst, was zu tun ist. Klar war: Macht ihr nichts, seid ihr raus.“ Kinzel behauptet, seine Athletinnen hätten die Wahl gehabt. Aber er gibt zu: „Wer das nicht gemacht hat, hat sich gegen den Leistungssport entschieden. Wir hatten einen Auftrag. Um den zu erfüllen, war es gang und gäbe zu dopen.“ Er habe aber „mit jedem Athleten auch über das Risiko gesprochen. Das ist etwas anderes, als wenn man Athleten Mittel gibt und die nichts davon wissen.“

Die Blanko-Rezepte

Diese Erfahrung machte auch die Leichtathletin Claudia Lepping. Im Jahr 1987 wechselte die damals 19-Jährige von ihrem Heimatverein in Marl nach Hamm. Sie wollte lernen von den schnellen Konkurrentinnen und deren Trainern. Rasch erkannte Lepping das „Erfolgsgeheimnis“ der Hammer Trainingsgruppe: „Die Blanko-Rezepte hingen offen an der Pinnwand, die Kulturbeutel waren voll mit Medikamenten“, sagt sie.

„In der Gruppe haben alle offen über Doping gesprochen. Die Trainer haben sich über die Nebenwirkungen der Steroide sogar noch lustig gemacht.“ Lepping lehnte Doping ab und wandte sich mit einem Brief an den DLV: In Hamm wird gedopt, bitte tut etwas dagegen. Die Antwort, so Lepping, sei knapp und deutlich gewesen: „Liebe Claudia, meines Erachtens liegt hier ein Missverständnis vor. Mit sportlichen Grüßen, dein Leistungssportdirektor.“

Auch die aktuelle Studie zur deutschen Dopingvergangenheit belegt, dass die Ereignisse in Hamm keine Ausnahme waren. Was es im Westen nicht gab: flächendeckendes, vom Staat organisiertes Doping, auch waren Minderjährige offenbar nur in Einzelfällen Opfer. Dies unterscheidet das West-Doping vom sogenannten „Staatsplan 14.25“ in der ehemaligen DDR.

Bei den gebürtigen Gladbeckern Kinzels gab es dagegen eher ein Art „Familiendoping“: Jahrelang verabreichte Hans-Jörg seiner damaligen Gattin, der erfolgreichen 400-Meter-Läuferin und EM-Zweiten Gisela Kinzel, männliche Hormone. Ob er bereut? Hans-Jörg Kinzel zögert. „Ich bereue das, weil ich ohne diesen Bruch sicherlich einen erfolgreicheren Weg als Trainer hätte einschlagen können. Das Doping belastet meine Karriere auch heute noch.“

Seine Karriere. Mehr als ein Jahrzehnt hat er nicht im Sport gearbeitet, seit 2005 aber arbeitete der geständige Kinzel wieder als Kinder- und Jugendtrainer in Baden-Württemberg. Vor einigen Jahren hat er sogar eine Trainerfortbildung für den Württembergischen Leichtathletik-Verband gegeben. Kinzel pocht auf seine zweite Chance. Er hat gestanden, er habe gereut, heute nennt er Doping „den falschen Weg“. Kinzel aber beklagt die Scheinheiligkeit von ehemaligen West-Dopern und Verbandsfunktionären.

Hans-Jörg Kinzel nennt keine Namen.

Sein Kollege aus Hammer Zeiten hat es da besser getroffen. Jochen Spilker, vom Hammer Amtsgericht im Urteil von 1994 als Kopf des Doping-Zirkels erkannt, der „mit Fortsetzungsvorsatz“ gehandelt habe, war später Bundestrainer im Deutschen Leichtathletik-Verband und wirkte im Leistungszentrum Dortmund.

Kritik ohne Wirkung

Spilkers Karriere zumindest geriet nie ins Stocken. Seit Mitte der 90er Jahre ist der renommierte Rechtsanwalt nun schon Vizepräsident des Thüringer Landessportbundes (LSB). Auf Anfragen dieser Zeitung reagierte Spilker nicht. Der Verband sagt, Spilker habe als Vizepräsident Recht mit dem Leistungssport nichts zu tun. Zudem habe er sich öffentlich erklärt.

„Herr Spilker hatte sich von Beginn unserer Zusammenarbeit kritisch und offen zu seiner Vergangenheit bekannt“, sagte jüngst der frühere DDR-Hochsprungrekordler und jetzige LSB-Geschäftsführer Rolf Beilschmidt. Nicht jedem gefällt dieser Umgang mit einer heiklen Personalie, die schon lange schwelt. Bereits 2007 etwa hatte Michael Vesper, Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), die Besetzung scharf kritisiert: „Wer wie im Falle von Herrn Spilker als Trainer Doping zugelassen oder gar gefördert hat, ist für Spitzenpositionen im Sport untragbar und darf auch niemals mehr die Obhut über Kinder und Jugendliche bekommen.“

Passiert aber ist in der autonomen Welt der Sportfunktionäre – nichts.

Es ist lange her. Und doch so nahe. Das spürt auch Claudia Lepping, die immer wieder auf ihre Erfahrungen in Hamm angesprochen wird: „Ich komme mir dann vor, wie die Oma, die vom Krieg erzählt.“

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