Essen. . Das deutsche Team gewinnt bei der Schach-EM überraschend den Titel – aber Topspieler Naiditsch greift Bundestrainer an. „Er hat eine Festanstellung beim Deutschen Schach-Bund und kassiert rund 50 000 Euro im Jahr. Er glaubt jedoch, er fahre nicht zu einer EM, sondern in die Ferien“, kritisiert Naiditsch.

Wer vor der Schach-Europameisterschaft auf Deutschland als Sieger getippt hat, der traut dem 1. FC Köln wohl auch den Gewinn der Deutschen Fußball-Meisterschaft 2012 zu. Aber das von seiner Leistungsstärke an Nummer zehn gesetzte deutsche Team wuchs bei der EM über sich hinaus und sicherte sich im griechischen Porto Carras die Goldmedaille. Es war der größte Erfolg des deutschen Schachs seit Jahrzehnten, allenfalls vergleichbar mit dem zweiten Platz bei der Olympiade 2000 in Istanbul.

„Das war natürlich eine große Überraschung“, sagt der für den Deutschen Meister Baden-Baden spielende Dortmunder Arkadij Naiditsch, „wir hatten uns vorgenommen, unter die besten Fünf zu kommen. Umso besser, dass wir noch stärker waren.“

Naiditsch ist der mit Abstand beste deutsche Schachspieler, der nach seinem starken EM-Auftritt in der Weltrangliste einen Sprung von Platz 31 auf 25 machen wird. Neben Naiditsch kommt mit Daniel Fridman vom Bundesligisten Mülheim-Nord ein weiterer Europameister aus dem Ruhrgebiet. Außerdem spielten Jan Gustafsson (Baden-Baden), Georg Meier (Trier) und Rainer Buhmann (Hockenheim) für das deutsche Team.

„Natürlich hoffe ich, dass wir mit dem Titelgewinn etwas Positives bewirken können für das deutsche Schach“, sagt Naiditsch, „aber das liegt jetzt am Verband. Und da bin ich sehr skeptisch. Ich glaube sogar, dass sich die meisten Präsidiumsmitglieder gar nicht über unseren Sieg freuen. Gratuliert hat mir auch niemand.“ Der 26-jährige gebürtige Lette, der mit seiner Familie 1996 von Riga nach Dortmund umzog, ist Schach-Profi und will auch professionell mit seinen Meinungs-Verschiedenheiten mit dem Deutschen Schach-Bund umgehen.

Für die Titelkämpfe in Griechenland stellte er die Querelen mit dem Verband beiseite, aber auch das EM-Gold ändert nichts an seiner Einstellung zu Bundestrainer Uwe Bönsch. „Er hat eine Festanstellung beim Deutschen Schach-Bund und kassiert rund 50 000 Euro im Jahr. Er glaubt jedoch, er fahre nicht zu einer EM, sondern in die Ferien“, kritisiert Naiditsch. Bei David Fridman hört sich die Beurteilung des Bundestrainer so an: „Er kümmert sich um die Unterbringung im Hotel oder sorgt dafür, dass wir immer genügend Getränke haben.“

Der schachliche Anteil des Bundestrainers am großen Erfolg ist nach Meinung der Spieler also sehr begrenzt. Dagegen loben sie die Tätigkeit von Rustam Kasimdschanow. Der in Deutschland lebende Usbeke war speziell für die EM als Trainer verpflichtet worden. „Rustam ist der Trainer von Weltmeister Viswanathan Anand“, sagt Naiditsch, „er genießt unser Vertrauen. Er hat uns Eröffnungs-Tipps gegeben und uns geraten, gegen welche Gegner wir lieber vorsichtig oder mit vollem Risiko spielen sollen.“

Vor einem Jahr hatte das Präsidium des Deutschen Schach-Verbands die Beschäftigung von Ex-Weltmeister Kasimdschanow noch abgelehnt. Da es noch weitere Unstimmigkeiten gab, verweigerten Naiditsch, Fridman, Meier und Gustafsson bei der Schach-Olympiade ihre Teilnahme. Ohne die vier besten Schachspieler sprang nur der 64. Platz für Deutschland heraus.

Wenn das deutsche Team 2012 bei der Olympiade in Istanbul so auftrumpft wie bei seinen grandiosen EM-Vorstellungen gegen Schach-Olympiasieger Ukraine (3,5:0,5), Aserbaidschan und Armenien (je 2,5:1,5), dann kann es für eine weitere Sensation sorgen. Vorher müssten sich die Spitzenspieler und der Verband jedoch erneut zusammenraufen. Mehr geht wohl nicht. Zumindest Naiditsch und der Bundestrainer werden keine Freunde mehr.