Leverkusen. Bayer Leverkusen ist aus dem Formtief heraus und zurück im Titelkampf. Bei Florian Wirtz geraten auch Gegenspieler ins Schwärmen.

Wie ein Magier sah Florian Wirtz wahrlich nicht aus, als er alleine, fast ein wenig einsam, in die Weihnachtsruhe verschwand. Der wohl faszinierendste Spieler der Bundesliga trug einen viel zu groß wirkenden hellblauen Jogginganzug, Oversize-Style, dazu ein schneeweißes Designertäschchen um die Schulter, die Kapuze des Hoodies tief im Gesicht. Er erinnerte eher an einen Schlumpf als an einen Sportler, dem zuzutrauen ist, im kommenden Jahr zum besten Fußballer der Welt zu werden. Jedenfalls staunen Zuschauer, Mitspieler und Gegner alle paar Tage gleichermaßen über die Aktionen dieses Künstlers, der ein Getriebener ist und zugleich ein Arbeiter. „Flo ist Flo“, sagte Trainer Xabi Alonso in Ermangelung besserer Worte, um zu beschreiben, was sich kaum in Worte fassen lässt. Beim 5:1 (1:0) gegen den SC Freiburg war es ihm sogar gelungen, den vierfachen Torschützen Patrik Schick zu überstrahlen. „Ich war wirklich während des Spiels mehrmals erstaunt“, sagte der Freiburger Stürmer Michael Gregoritsch, als er nach Wirtz gefragt wurde, „gefühlt macht er was er will und es funktioniert, es ist eine Augenweide“.

Ein Magier am Ball: Leverkusens Florian Wirtz (rechts) lässt auch die Gegenspieler regelmäßig staunen.
Ein Magier am Ball: Leverkusens Florian Wirtz (rechts) lässt auch die Gegenspieler regelmäßig staunen. © AFP | PAU BARRENA

Jeder Ballkontakt wirkte wie ein neuer unerwarteter Schnörkel eines virtuosen Solisten im Orchester, „wenn man den Fußball liebt und ihm zuschauen kann, dann ist das unglaublich, wie der Junge mittlerweile spielt, das ist ja Wahnsinn“, sagte Christian Günter, der Kapitän des SC. Und dieser „unfassbare Spieler“ (Gregoritsch) hat auch noch das Glück, in einer der leistungskulturell gesündesten Mannschaften zu spielen, die es derzeit im europäischen Spitzenfußball gibt. Bayer Leverkusen hat sich während der vergangenen Wochen abermals zu einem sehr gefährlichen Konkurrenten für Bayern München im Titelkampf entwickelt und ist vielleicht sogar noch ein Stück variabler und vielseitiger.

Bayer Leverkusen verkürzt Rückstand auf Spitzenreiter Bayern

Neun Punkte betrug der Rückstand auf die Bayern nach elf Spieltagen Ende November, vier Partien später sind es nur noch vier Zähler. Die Leverkusener haben den Tabellenführer auswärts in München im DFB-Pokal geschlagen, und sie haben wettbewerbsübergreifend acht Mal nacheinander gewonnen. Nach einer schwächeren Phase im Herbst, als der Deutsche Meister Führungen gegen Kiel, in Bremen sowie in Bochum und damit wertvolle Punkte verspielte, habe das Team „wieder diesen Biss gefunden, diese Energie, diesen Siegeswillen“, sagte Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes.

Entscheidender Moment im Pokal-Duell zwischen Bayern München und Bayer Leverkusen: Bayerns Torhüter Manuel Neuer sieht die Rote Karte.
Entscheidender Moment im Pokal-Duell zwischen Bayern München und Bayer Leverkusen: Bayerns Torhüter Manuel Neuer sieht die Rote Karte. © dpa | Tom Weller

Das klang wie eine Ankündigung für das kommende Jahr, das Bayer Leverkusen sowohl im DFB-Pokal als auch in der Champions League und in der Meisterschaft in einer guten Ausgangslage beginnt. Nicht nur selbstbewusst und mit einer Mannschaft, die mit der Haltung eines echten Champions agiert, sondern auch irgendwie gereift. Bereichert mit weniger guten Erfahrungen, die sich als Treibstoff für den Fortschritt entpuppt haben.

Nach Double: Leverkusen hat neuen Hunger entwickelt

„Am Anfang der Saison war die Euphorie so riesig, da war es vielleicht auch Kopfsache“, sagte Granit Xhaka. Das Gefühl, mit dem Double etwas Einzigartiges erreicht zu haben, den ersten Meistertitel für diesen Klub überhaupt, war nicht immer hilfreich. Alle wussten ja, dass die Bedeutung und die Intensität der Erlebnisse aus der Vorsaison eigentlich nicht übertroffen werden können. „Es ist nicht so, dass man nicht wollte, aber man konnte nicht immer am Grenzen gehen“, sagte Xhaka. Irgendwie haben sie es geschafft, einen neuen Hunger zu entwickeln, angetrieben von Xabi Alonso, der die Dynamiken des Fußballs auf dem allerhöchsten Niveau versteht und moderiert wie kaum ein anderer Trainer. Und von Florian Wirtz, dem im Gegensatz zu manchem Kollegen auch in der Saisonanfangsphase nie die Energie fehlte.

Leverkusens Granit Xhaka ist der klügste Taktgeber der Liga.
Leverkusens Granit Xhaka ist der klügste Taktgeber der Liga. © AFP | PAU BARRENA

Die Schwärmereien der Beobachter von außen ergänzte Xhaka zum Jahresabschluss noch mit der Innenperspektive: „In seinem Alter diese Konstanz alle drei Tage auf diesem Niveau spielen zu können verdient ganz großen Respekt“, sagte der erfahrene Schweizer. „Der Junge arbeitet so viel, wenn man ihn jeden Tag sieht im Training, wie hungrig er ist“, sei imponierend. Der 21 Jahre alte Nationalspieler, der seinen Vertrag entgegen anderslautender Berichte (noch) nicht verlängert hat, suche permanent „nach Sachen wo er sich verbessern möchte, das Ergebnis sieht man auf dem Platz“, erläuterte Xhaka.

Vergleich mit Bayern: Leverkusen schneidet gut ab

Gegen Freiburg hat Wirtz ein Tor geschossen, drei der vier Schick-Treffer hat er vorbereitet, außerdem hat er einen Elfmeter erdribbelt, den er dann aber selbst verschossen hat. Diesen immer höher fliegenden Spieler haben die Leverkusener also dem FC Bayern voraus, Granit Xhaka ist der klügste Taktgeber der Liga, und Jonathan Tah der souveränste Abwehrchef, und Stürmersituation ist ebenfalls vielversprechend: Beim Tabellenführer spielt Harry Kane, die Leverkusener haben den derzeit verletzten Victor Boniface und den aufblühenden Schick, der so stark spielt wie nie seit Alonso sein Trainer ist. Bayer Leverkusen ist nun auch ohne den Rausch des Vorjahres zu einem Team gereift, dem weitere Titel zuzutrauen sind, und das neue Jahr beginnt direkt mit einem Knall: mit einer Partie am 10. Januar bei Borussia Dortmund.