Malaga. Beim Davis Cup gibt Rafael Nadal seinen Abschied vom Profi-Tennis. Was bleibt neben all den Titeln und epischen Matches in Erinnerung?
Womit soll man bei einem wie Rafael Nadal (38) anfangen? Bei seinen überragenden sportlichen Bilanzen, bei 22 Grand-Slam-Siegen, bei sage und schreibe 14 Triumphen im Stade Roland Garros zu Paris, dem Schauplatz der French Open? Bei den vielen legendären Duellen, die er sich mit Roger Federer lieferte, seinem kongenialen Rivalen? Bei all seinen Rekorden, Bestleistungen, Spitzenwerten?
Oder vielleicht doch mit dem Menschen hinter dem Superstar Nadal. Und einer Szene, die sich vor ein paar Jahren rund um ein Fünf-Sterne-Hotel in Rom abspielte. Nadal ist an jenem Frühlingstag mit einer Gruppe deutscher Journalisten verabredet, ein Hintergrundgespräch zu einem Turnierstart ist verabredet. Nadal soll vom Training kommen, aber er verspätet sich. Eine halbe Stunde Wartezeit, dann fährt der Matador mit einer Limousine vor. Und natürlich führt ihn der Weg nicht gleich ins Hotelfoyer, denn erstmal schreibt der Mallorquiner unentwegt Autogramme für die Fans. Und zwar für jeden einzelnen, der da auf ihn wartet. Er stellt sich für gemeinsame Fotos auf, beugt sich hinunter zu einem Rollstuhlfahrer, schenkt ihm ein Shirt.
Rafael Nadal: Ein Normalo im Star-Rummel
Kaum ist er drinnen im Hotel, entschuldigt er sich kopfschüttelnd bei den deutschen Gästen fürs Zuspätkommen und fängt sofort an, über Gott, die Welt und sein Tennis zu reden. Als ihn sein PR-Berater nach einer halben Gesprächsstunde stoppen will, zeigt sich Nadal ungehalten. „Sorry“, sagt er, „aber sie sind einen langen Weg hierher gekommen.“ Und dann geht es noch eine halbe Stunde weiter, nichts bleibt ausgespart im Frage-und-Antwort-Spiel. Statt ins Zimmer zu eilen und sich eine Ruhepause zu gönnen, marschiert Nadal aber noch einmal vor die Tür. Neue Fans sind eingetroffen, er schreibt noch einmal Autogramme. Es gibt unter großem Jubelgeschrei sogar ein Gruppenbild mit spanischen Landsleuten. „Ich weiß, was diese Dinge den Menschen bedeuten“, sagt Nadal dazu, „für mich ist das keine Last, sondern eine Selbstverständlichkeit.“
Nun ist es bald vorbei mit einem der größten Tenniscracks und Sportler der Geschichte, mit dem Überspieler Nadal, der in der schillernden Szene des globalen Wanderzirkus vor allem immer ein Normalo geblieben ist. Einer mit manchen belächelten Macken auf dem Tennisplatz, aber allürenfrei, bodenständig und vernunftgesteuert neben den Centre Courts dieser Welt. Ein Star, der kein Star sein wollte, sondern nahbar blieb für seine Anhänger und Kollegen.
Rafael Nadal: Der muskulöse Kämpfertyp
Beim Davis-Cup-Finale in Malaga tritt Nadal nun ab, am Dienstag geht es gegen die Niederlande im Viertelfinale los. Vor dem Estadio Ciudad de Malaga ist bereits auf einem riesigen Schriftzug das alles überstrahlende Thema für den Wettkampf vorgegeben: „Gracias Rafa“. Hunderte Journalisten haben sich akkreditiert, ehemalige Weggefährten haben sich angekündigt, auch Grand-Slam-Rekordgewinner Novak Djokovic will trotz seines vorzeitigen Saisonendes vorbeischauen, „aus Respekt vor Rafa“. Und es wäre kaum verwunderlich, wenn nicht Federer, der Freund und Gegner, der Hauptgast der Abschiedsparty wäre. Schließlich heulten Federer und Nadal gemeinsam auf dem Centre Court, als der Schweizer vor zwei Jahren in London beim Schaukampf Laver Cup seine Karriere beendete. Nadal, Federer und Djokovic, die sogenannten Big-Three-Titanen, stehen für die verrückteste Epoche in diesem Sport, für fast zwei Jahrzehnte einer unvergleichlichen Dominanz. Zusammen bringen sie es auf 66 Grand-Slam-Titel.
Nadal war in diesem Schauspiel der muskulöse Kämpfertyp. Ein Mann, den sie in Paris wegen seiner verwegenen Fightermentalität und seinem Siegeshunger auch Ogre nannten – das Ungeheuer. Der Mallorquiner lebte nach einer schlichten, einprägsamen Maxime: „Ich spiele immer mit 100 Prozent. Nur so kann ich überleben im Profitennis. Wenn meine 100 Prozent nicht ausreichen, war der Gegner halt besser.“ Einen anderen Nadal, so Nadal selbst, „gibt es nicht“. So machte er auch immer wieder das schier Unmögliche möglich, gewann längst verloren geglaubte Matches, lieferte Houdini-Entfesselungsakte. Für jedes einzelne Match, für seine ganze Karriere galt, was einmal der amerikanische Ex-Star John McEnroe über ihn sagte: „Der größte Fehler im Tennis ist, Rafael Nadal irgendwie abzuschreiben.“
Rafael Nadal: Mit Spritzen über die Ziellinie
Nadals strapaziöses Spiel forderte oft genug seinen Tribut. Seine Verletzungspausen im Tennis-Circuit summierten sich auf vier Ausfalljahre, es gibt kaum eine Blessur, die Nadal nicht zu überstehen hatte. Nadals Pausen hatten zuletzt aber vor allem mit dem Müller-Weiss-Syndrom zu tun, einer degenerativen Fußerkrankung – bei vielen Turnieren schaffte er es nur mit Sachmerzmitteln und schmerzstillenden Spritzen über die Ziellinie. Sein Onkel Toni, der ihm über weite Strecken des langen Tennismarsches als Trainer diente, sagt, er kenne keinen Menschen, der Schmerzen so ignorieren und beiseite drängen könne wie sein Neffe. Nadal kommentierte das lakonisch, er sei es eben gewohnt, „als Spieler die Grenzen auszutesten: Ich lebe vom Kampf, von der Bereitschaft, alles zu investieren für den Sieg. Diese mentale Härte gehört zu mir als Profi.“
Angefangen hatte die Nadal-Ära vor knapp zwei Jahrzehnten, mit dem ersten von schließlich 14 French-Open-Siegen unterm Eiffelturm – damals als 18 Jahre alter Debütant. In der Pose des Tennispiraten, mit Stirnband und Caprihose, fegte der Teenager über die Ascheplätze, erinnerte als „Ballermann von Mallorca“ (Daily Mail) an einen anderen jugendlichen Helden, den Wimbledon-Himmelsstürmer Boris Becker. „Maximaler Einsatz, keine Kompromisse“ lautete sein Credo. Es ging sogar so weit, dass er sich Hände und Füße blutig spielte. Becker selbst hatte Nadal schon früh im Visier: „Da hat ihn mir sein Onkel Toni vorgestellt und gefragt, was ich von ihm halte. Ich war hin und weg, schon damals.“ Beeindruckt habe ihn besonders „seine Kompromisslosigkeit, sein Ehrgeiz, seine Motivation, seine Kampfbereitschaft – und die Tatsache, dass er immer bereit war, einen Schritt mehr zu laufen als der andere“.
Rafael Nadal: Kein Alien auf der Heimat-Insel
Rückzugsort Nadals war damals wie heute die heimatliche Insel: „Hier ist das Zentrum meiner Welt, mein Ruhe- und Fluchtpunkt. Hier starrt mich keiner an wie ein Außerirdischer, nur weil ich so gut Tennis spiele“, sagt Nadal, „die Leute sagen halt: Klasse gemacht, Rafa – und dann geht das Leben weiter.“ Der Tennis-Überflieger war im Übrigen nicht der erste aus dem vermögenden Nadal-Clan, der für sportliche Schlagzeilen sorgte: Nadals zweiter Onkel aus der väterlichen Linie, Miguel Angel, spielte 62 Mal für die spanische Fußball-Nationalelf und wurde viermal mit dem FC Barcelona Meister in der „Primera Division“.
Bis zu seinem zwölften Lebensjahr war auch der „Meister der Roten Erde“ (Independent) unentschieden, ob er in die Fußstapfen des berühmten Onkels treten oder doch lieber an einer Tennis-Karriere basteln sollte. Nadal entschied sich fürs Tennis, vor allem, „weil ich dort ganz allein für Sieg oder Niederlage verantwortlich sein kann“. Schon mit 13, 14 Jahren spielte er internationale Turniere und bezwang gestandene Profis mühelos. „Es war eine harte, erbarmungslose Schule. Aber genau das Richtige, um ihn zu formen“, sagt Onkel Toni, ein ehemaliger Politik- und Jurastudent, der sich auch um die Erziehung und die Bildung des Ausnahmetalents kümmerte, „wir hatten immer die Hausaufaufgaben und ein paar Bücher im Gepäck“. Nach den ersten größeren Tenniserfolgen lobte ihn die New York Times nicht nur für sein „aufregendes Spiel und den richtigen Look“, sondern auch für seine „wache Intelligenz und die bemerkenswert guten Manieren“.
Rafael Nadal: Schon ein Grand-Slam-Titel hätte ihm gereicht
Ähnlich wie sein lebenslanger Tennis-Rivale und Freund Roger Federer vertraute Nadal seit jeher einem kleinen Kreis von Menschen als Wegbegleiter. Neben seinen Eltern, seiner Frau Maria Francesca und Onkel Toni sind das sein Coach Carlos Moya, ein ehemaliger Nummer-eins-Spieler und ebenfalls gebürtiger Mallorquiner. Sowie Manager Carlos Costa und Pressemann Benito Perez-Barbadillo. „Wir sind alle eine große Familie. Wir vertrauen uns bedingungslos“, sagt Nadal, der inzwischen auch längst für die Zeit nach seiner Karriere vorgesorgt hat. Neben einer großen Schulungsstätte für Tennistalente daheim in Manacor gibt es inzwischen auch schon Rafael-Nadal-Akademien im mexikanischen Cancun und in Kuwait. Seine Geschäftsbeziehung mit dem Königreich Saudi-Arabien stieß allerdings auf massive Kritik.
Woran man sich erinnern solle, wenn man den Namen Rafael Nadal höre, wurde der Gladiator zuletzt einmal gefragt. Nicht an all die Zahlen, Daten und Fakten, die Titel und Trophäen, so Nadal. Sondern am besten daran, „dass ich immer versucht habe, ein fairer und ehrlicher Sportler zu sein. Einer, der stets sein Bestes gegeben hat.“ Vieles, was an Nachrichten, an scheinbar Wichtigem sonst so in der Glitzerwelt des Tennisbetriebs auch über ihn produziert werde, „lässt mich schlicht kalt“.
In all den Jahren an der Weltspitze hat Nadal niemals den Respekt vor seinen Gegnern verloren – mochten die berühmten Namen tragen oder grüne Neulinge in der Branche sein. Dünkel, Arroganz oder Hochmut sind das Letzte, was sich mit seinem Namen verbindet: „Ich ging in jedes Match mit dem Gedanken: Das ist ein Gegner, der meinen Respekt verdient, der es drauf hat, mich zu schlagen.“ Wer das nicht beachte, so Nadal, habe im Sport generell nichts zu suchen: „Sorglosigkeit darfst du nicht haben, auch kein übertriebenes Ego. Denn das ist der Anfang vom Ende.“
Nadal hat immer erklärt, er wäre schon mit einem einzigen Grand Slam-Sieg ein „sehr glücklicher und zufriedener Mann“ gewesen. Für ihn hat sich tatsächlich auch durch alle weiteren Erfolge nichts Grundlegendes verändert. „Mein Traum war, überhaupt ins große Tennis zu kommen. Das ist schon lange her.“ Alle aktuellen Lobeshymnen quittiert der 38-Jährige mit der gewohnten Zurückhaltung: „Das Leben geht immer weiter. Niemand ist unersetzlich.“