New York. Jannik Sinner will die US Open gewinnen, den Tennisprofi begleiten vor Turnierbeginn aber Fragen um seine Doping-Affäre.
Auf seinen Internet-Kanälen ist die Welt sowieso in Ordnung. Da spielt sich Jannik Sinner beim lässigen Training im Billie-Jean-King-Tenniscenter die Bälle mit dem legendären Andre Agassi zu, da absolviert der Bursche aus dem Pustertal PR-Termine in den Häuserschluchten von Manhattan, freut sich beim Fotoshooting mit Kindern aus der „Little Star Foundation“ auf die kommenden Grand-Slam-Festspiele im Big Apple“ Sinner lächelt dabei immer, natürlich, es sind seine eigenen Image-Vertriebswege. Er soll stark, unerschütterlich, sympathisch wirken.
Sinner für sein Erstrunden-Match in New York klarer Favorit
Sein Grand-Slam-Ernstfall beginnt allerdings erst jetzt, an diesem Dienstag, wenn er hinein schreitet in den größten Tennistempel der Welt, ins Arthur-Ashe-Stadion von Flushing Meadows. Ein Amerikaner wird ihm, dem Nummer-1-Spieler, dann in der Auftaktrunde der US Open 2024 gegenüberstehen, Mackenzie McDonald, die Nummer 140 der Welt, mit der bisher bescheidenen Jahresbilanz von vier Siegen und zwölf Niederlagen auf der Tennistour. Kein einziges Major-Match hat McDonald in der laufenden Saison gewonnen, Sinner dagegen sehr viele, er hatte zu Jahresbeginn auch das erste Wort im Wanderzirkus, als er die Australian Open gewann, auf den letzten Metern schlug er die Nummern 5, 1 und 3 der Welt. Anders gesagt: Er gewann gegen Andrej Rublev, Novak Djokovic, schließlich Daniil Medwedew.
Wirbel um Dopingvorwürfe
Aber jetzt ist einiges anders für Sinner. Vor einer Woche versetzte er die Tenniswelt nicht mit einem großartigen Centre-Court-Auftritt, sondern mit einer Doping-Affäre in Aufruhr. Zwei positive Tests im April, zwei kurze Sperren, zwei erfolgreiche Einsprüche. Dann monatelanges Schweigen, dann das Bekanntwerden der Dopingfälle und der Freispruch zugleich. Ein Schadensfall für das Tennis, ein Fleck auf der weißen Weste auch für den 23-jährigen Sympathieträger aus den Alpen. Eine Causa Sinner mit vielen kleineren Ungereimtheiten, Verfahrensproblemen, potenzieller Sonderbehandlung. Zwei Sündenböcke mussten das Team Sinner verlassen, der Fitnesstrainer und der Masseur, die für die Fehlerkette bis zur Kontamination der Nummer 1 mit dem anabolen Steroid Clostebol verantwortlich sein sollen.
In New York sind größere Unmutsbekundungen nicht zu erwarten
Sinner hat wahrscheinlich sogar Glück, nun in New York antreten zu dürfen. Die Amerikaner sind bekannt dafür, sich ihre größte Tennisshow auf Erden von nichts und niemandem verderben zu lassen. Sie wollen eine gute Zeit haben, feiern, johlen, brüllen und erst mal jeden anfeuern, der für das Sternenbanner an den Start geht. Größere Unmutsbekundungen gegen Sinner sind kaum zu erwarten, Pfeifkonzerte oder ähnliches. Den Kampf, den Sinner auszufechten hat, wird eher einer mit sich selbst sein, mit seinen Nerven, mit seiner Mentalität, seiner Leidenschaft unter diesen besonderen Umständen. Ein Kampf um Selbstbehauptung.
Tennis-Profi Djokovic kritisiert Umgang mit der Doping-Affäre
Sinner hat in einer rund zehnminütigen Pressekonferenz beteuert, nichts falsch gemacht zu haben, er stehe für sauberen Sport ein. Er sagte auch, sich gut gehalten zu haben in den letzten Monaten, in denen die Affäre unter der Oberfläche schwelte. Allerdings wusste er bei diesen Auftritten, dass nur wenige davon wussten, kein anderer Spieler. Jetzt ist ihm klar, dass alle es wissen und dass manche durchaus Zweifel an Vorgängen und Erklärungen haben. So wie beispielsweise Novak Djokovic, der kritisierte, dass der Fall nicht wie andere gleichgelagerte Fälle zuvor über die Bühne der Tennis-Gerichtsbarkeit gegangen sei. Der extrovertierte frühere Wimbledon-Finalist Nick Kyrgios hatte öffentlich schnell eine Sperre gefordert, weitere Profis wie der Kanadier Denis Shapovalov einen Superstar-Bonus beklagt.
Kann Sinner tatsächlich auch das letzte Wort in dieser Grand-Slam-Serie des Umbruchs haben, bei den wilden, verrückten US Open mit ihrer aufgeladenen Atmosphäre? Sein bestes New Yorker Ergebnis ist bisher der Viertelfinaleinzug 2022, damals verlor er gegen Carlos Alcaraz. Im vorigen Jahr scheiterte er im Achtelfinale über die volle Distanz an Alexander Zverev. „Sinner or not“, titelte vor dem Start ins Spektakel eine New Yorker Boulevardzeitung zu den sportlichen Aussichten für den Südtiroler. Sinner steht allerdings im Englischen auch für den „Sünder“ (oder nicht) – und somit keineswegs nur für die Frage nach den Titelperspektiven. Sinners Heimatblatt, die Bozener Zeitung, sieht den Weltranglistenersten und lokalen Helden jedenfalls ab heute vor „einer seiner größten Aufgaben“ überhaupt.