Lillehammer/Essen. Noch den letzten Meter herauskitzeln oder lieber sicher für mehr Punkte landen? Skispringer stehen Regeländerung gespalten gegenüber.
So ein Sprung ins Diesige kann schon mal zu einer doppelten Gefahr werden. Als Andreas Wellinger dieser Tage die Skisprungschanze in Klingenthal herunter fuhr, den Absprung am Bakken genau traf und im Flug durch den Nebel die mangels Schnee grünen Kunstrasen-Matten unter sich sah, wusste er sehr schnell: Ja, das geht seeeehr weit. Der Eindruck täuschte nicht, „ach du Scheiße“ ist als Kommentar eines Trainers während der Videoaufnahme dieses Traumsprungs zu hören. Je flacher der Schanzenauslauf aber wird, desto schwieriger ist es, die Skier heil und zum Telemark versetzt am Boden aufzusetzen. Wellinger verzichtete daher auf die eleganteste Landung, hielt sich aber sicher auf den Beinen – was nach 144 Metern Flug durchaus beachtlich ist. Ein Zeichen, dass es für den 29 Jahre alten Olympiasieger von Pyeongchang 2018 auch in der neuen Saison hoch und vor allem weit hinaus geht?
Skispringer starten am Samstag in Lillehammer in den Weltcup
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Die Gefahr, jene eingangs erwähnte zweite neben der Landung, ist nämlich, dass aus solchen Flügen eine viel zu große Allgemeingültigkeit für den bevorstehenden Winter geschlossen wird. „Die Trainer sind wohl etwas nervös geworden“, sagte Wellinger in seiner gewohnt verschmitzten Art zu dem Sprung, der ihm vor dem ersten Einzelspringen des Winters an diesem Samstag in Lillehammer (15.45 Uhr/ARD und Eurosport) eine prächtige Frühform bescheinigt. Doch das Segeln durch die Lüfte, das in den kalten Monaten des Jahres so viele Sportfans begeistert und sie zugleich mit offenen Mündern auf den Tribünen zittern lässt, ist ein Wochen-, beinahe ein Tagesgeschäft. Wer heute Bestweite springt, kann morgen schon wieder aus den Top Ten rausfliegen. „Von der Sprungqualität her echt stark, unerwartet stark“, sagt der Ruhpoldinger mit einem Leuchten in den Augen zu seinem aktuellen Leistungsvermögen, „aber es ist immer eine Blackbox. Du weißt immer erst nach dem ersten Wettkampf, wo stehen wir wirklich.“
Ihn wird beruhigen, dass es dem Gesamtzweiten der vergangenen Vierschanzentournee da nicht anders gehen wird als dem noch Besseren, Ryoyu Kobayashi aus Japan, oder dem Gesamtweltcup-Sieger Stefan Kraft aus Österreich. Auf Andreas Wellinger ruhen die Hoffnungen des Deutschen Ski-Verbandes im vorvorolympischen Winter, die K-und-K-Herrschaft der beiden Widersacher zu durchbrechen. Bei der WM in Trondheim und eben bei der Vierschanzentournee, die seit Sven Hannawald 2002 kein Deutscher mehr gewonnen hat. „Ich bin letztes Jahr Zweiter geworden. Wenn ich jetzt sage, ich will nur unter die Top Ten springen, glaubt mir das eh keiner. Logisch will ich das Ding gewinnen“, sagt Wellinger.
Um bei den vier Springen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen die beste Form zu haben, bedarf es mehr denn je einer Punktlandung. Oder besser gesagt: einer Viele-Punkte-Landung. Als wäre das Skispringen witterungs- und materialbedingt nicht schon häufig genug eine Lotterie, wurde jetzt noch mal an den Gewinnchancen gedreht. Die Landung wird noch wichtiger; Sprungrichter sollen mehr Punkte abziehen, wenn ein Springer dabei keinen technisch anspruchsvollen Telemark zeigt. Wellinger und Kollegen werden quasi vor die Wahl gestellt: Den Sprung bis zum Letzten ziehen und jeden erdenklichen Meter notfalls auf Kosten einer unsauberen Landung herausholen? Oder lieber früher abbrechen, dafür aber Extrazähler für den perfekten Aufsprung kassieren?
Skispringer Geiger entsetzt über neue Regel: „Sind nicht beim Dressurreiten“
„Zwiegespalten“ ist Wellinger, „wir reden immer davon: 20 Punkte sind ideal. Aber wann hat man bisher eine 20 bekommen? Und was soll man denn noch machen, damit ein Sprung mal ideal ist?“ Deutlicher fällt die Kritik beim Weltcup-Rückkehrer und siebenmaligen Weltmeister Markus Eisenbichler aus, der die Regeländerung „total bescheuert“ findet. Weil sie, wie Karl Geiger es formuliert, vom Weltverband Fis „in irgendeinem Kämmerchen beschlossen“ wurde. Der Olympia-Dritte von Peking 2022 befürchtet zu viel Spielraum bei der Punktevergabe: „Wir sind ja nicht im Eiskunstlauf oder Dressurreiten. Sondern wir wollen, dass der weiteste und beste Sprung gewinnt.“
Andreas Wellinger erkennt, dass „das Schöne mehr honoriert, das Schlechte mehr bestraft“ wird. Ihm fallen die Worte allerdings auch etwas leichter: Der Bayer ist für seinen stilistisch sauberen Flug bekannt und könnte deshalb mehr als andere vom neuen Reglement profitieren. Es war daher wohl nur halb im Scherz gemeint, hatte aber doch einen tieferen Kern, dass Bundestrainer Stefan Horngacher mit Blick auf die Vierschanzentournee anfügt: „Vielleicht können wir so ja die Tournee gewinnen – über die Landung.“