Essen. Am 4. Juli 1954 wurde Deutschland erstmals Weltmeister. Der Titel schenkte dem Land eine neue Identität und unvergessliche Zitate.
„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen!“ Walter Ulbrichts Lüge aus dem Juni 1961 ist ebenso in die kollektive Erinnerung der Deutschen eingebrannt wie ihre Auflösung 28 Jahre später, als Günter Schabowski mit den gestammelten Halbsätzen „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ den Abriss der eigentlich laut Walter Ulbricht doch gar nicht gebauten Mauer und das Ende der DDR einleitete. Oft beschreiben einige wenige Worte Ereignisse historischen Ausmaßes gesellschaftliche Umbrüche oder persönliche Dramen. Viele Generationen werden auch Uwe Barschels tragisches „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort“ nie vergessen.
Zwei der schönsten, emotionalsten und in den vergangenen 70 Jahren vermutlich meist wiedergegebenen Sätze deutscher Nachkriegsgeschichte kommen aus dem Sport. Auch die jüngsten Generationen werden noch wissen, was der Satz „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen“ beschreibt. Sie können erahnen, was da ins Radiomikrophon geschriene „Aus, Aus, Aus, Aus - das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister“ für die junge Bundesrepublik bedeutete.
Wunder von Bern: Deutschlands Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft
Das Wunder von Bern, wie die Fußball-Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz aus deutscher Sicht und der Gewinn des Endspiels gegen Ungarn am 4. Juli seither in emotionaler Überhöhung genannt wird, ist natürlich noch so eine selbsterklärende treffende Formulierung.
Den Einwohnern der jungen Bundesrepublik bescherte die WM - das erste große internationale Fußballturnier, an dem der Nachfolgestaat der NS-Diktatur wieder teilnehmen durfte - das Gefühl, wieder zur internationalen Staatengemeinschaft dazuzugehören. Auch wegen dieses Wissens war es kein normaler Titelgewinn.
Ob das Turnier es den Menschen leichter machte, die Schuld des Krieges, den Holocaust, zu verdrängen, ist schwierig zu sagen. Im Rückblick scheint es so, wird es oft so angenommen. Für mehr als 20 Jahre richtete sich der Blick jedenfalls nach vorn, kaum einmal zurück.
In den Zeitungen und Zeitschriften des WM-Jahres spielte Fußball zwar als Sport, aber als gesellschaftliches Phänomen kaum eine große Rolle. Es wurde über Fußballspiele berichtet. Dass nach dem Titelgewinn die Menschen die Straßen säumten, sich beinahe eine halbe Million Menschen beim Empfang in München versammelten, wurde - analysierten Historiker - mit einigem Unbehagen registriert, waren es doch die ersten großen öffentlichen Menschenaufläufe seit den Aufmärschen der Nazi-Zeit.
WM 1954: Der WM-Sieg als inoffizieller Gründungstag des neuen Deutschlands
Das Wunder von Bern wurde nach Trümmerjahren und erstem Wiederaufbau später nicht tatsächlich, aber emotional als Startschuss Richtung Wirtschaftswunderjahre und neuem Wohlstand wahrgenommen. Das Bruttosozialprodukt des jungen Staates verdreifachte sich von 1950 bis 1960, auch deshalb wurde ein eigentlich europäisches Phänomen der Nachkriegszeit als deutscher Erfolg wahrgenommen. Deshalb wird das Finale von Bern im Juli 1954 als inoffizieller Gründungstag des neuen Deutschlands gesehen, wichtiger noch als Währungsreform und Wiedervereinigung. Auch das natürlich nachträgliche Überhöhung, aber die Saat für den Fußball, der als kleinster gemeinsamer Nenner über alle gesellschaftliche Schluchten hinweg einen kann, war gelegt.
Stellvertretende Helden dieses Wunders waren Fußballer, ebenfalls gewürdigt durch Herbert Zimmermann, dem Mann am Radiomikrophon. Über den Duisburger Toni Turek beispielsweise sagte der damalige Monopolist des gesprochenen Wortes beim Turnier: „Turek, du bist ein Teufelskerl! Turek, du bist ein Fußballgott! Entschuldigen Sie die Begeisterung, die Fußballlaien werden uns für verrückt erklären …“ Hauptberuflich arbeitete der Fußballgott, der einst Bäcker gelernt hatte, übrigens bei der Rheinischen Bahngesellschaft. Den Tageslohn von 18,49 Mark musste während des Turnieres der DFB übernehmen, damit der Torwart überhaupt Sonderurlaub nehmen durfte. Der Beruf des Fußballprofis als lukrativer Lebensinhalt setzte sich in Deutschland erst später durch.
Daran, dass das Wunder von Bern so groß wurde, hat vor allem Herbert Zimmermann großen Anteil. Der gebürtige Alsdorfer wollte vor dem Krieg Journalist werden, reüssierte dann, wenn man das so sagen darf, als hochdekorierte Panzerkommandant – und durfte folgerichtig dann beim Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg nach dem Krieg zunächst einmal nur Wasserstandsmeldungen verlesen. Er kam dann noch zum Sport, prägte bis zur WM 1966 die Liveberichterstattung beim Fußball und strickte an der Legende der Weltmeisterschaftsmannschaft mit.
WM 1954: Als das Radio noch wichtiger war als der Fenseher
In den 50er Jahren, dem Radiojahrzehnt, war der Reporter am Mikrophon beinahe konkurrenzlos. Das Fernsehen berichtete zwar erstmals live, aber es spielte für die breite Öffentlichkeit noch keine Rolle. Die Fernsehbilder vom Turnier sind nicht erhalten, weil die Aufzeichnungstechnik noch nicht so weit war. Es blieb die markante Stimme Zimmermanns. Gänsehautmomente, übermittelt an Radioempfänger in Wohnzimmer, Büros und Kneipen zwischen Flensburg und Freising.
Und es gab ja einiges zu erzählen aus dem Berner Wankdorf-Stadion. Erstmal vom strömenden Regen, dem nach dem Kapitän der deutschen Mannschaft benannten Fritz-Walter-Wetter – noch so ein Begriff, der mindestens bis Ende des 20. Jahrhunderts Teil des Sprachgebrauchs war. Vor allem aber berichtete Zimmermann natürlich vom Spiel, dem aus deutscher Sicht deprimierende Rückstand durch Tore der Ungarn Ferenc Puskas und Zoltan Czibor in der sechsten beziehungsweise achten Minute. Max Morlock immerhin schoss nur zwei Minuten später das Tor zum 1:2, Helmut Rahn glich unmittelbar danach (18.) aus. Es blieb spannend und Ungarn gefährlich. Toni Turek wurde zum Fußballgott, Helmut Rahn in der 84. Minute mit dem Tor zum weltmeisterlichen 3:2 zum Erlöser. Und zwei Sätze zur deutschen Sprachlegende.