Berlin. Der Verteidiger von Real Madrid ist ein Mann der Widersprüche. Warum? Auf den Spuren des deutschen Abwehrchefs in Berlin-Neukölln.

Der junge Mann, der an einem milden Mai-Nachmittag vor dem Jugendtreff Sunshine Inn sitzt, ist überrascht. „Von hier?!“, fragt er und zeigt mit den Fingern demonstrativ auf den Boden. Nicht ganz. In der High-Deck-Siedlung, einem Brennpunkt, der ein paar Häuserblöcke weiter weg liegt, ist Antonio Rüdiger aufgewachsen. Staunen. „Er hat es geschafft“, sagt der Jugendliche. Das kann man so sagen.

Antonio Rüdiger, 31, ist zweimaliger Champions-League-Sieger. Er spielt für Real Madrid, den größten Klub der Welt. Am vergangenen Wochenende hat er in Wembley triumphiert. Bei der Europameisterschaft wird er der Abwehrchef der deutschen Nationalmannschaft sein. Am Mittwoch stieg er ins Training ein. „Wir müssen demütig sein“, forderte er anschließend auf der Pressekonferenz.

Antonio Rüdiger, ein Mann zwischen großem Herzen und Bad-Boy-Image, zwischen Anerkennung und Provokation, Identifikation und Ablehnung.

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Um sich Rüdiger anzunähern, beginnt man am besten auf der Aronsstraße in Berlin-Neukölln. Sie schlängelt sich durch Mehrfamilienhäuser, denen ein grün-beiger Anstrich verliehen wurde. Nach ein paar Metern erreicht man einen Käfig-Bolzplatz, dessen Boden so blau ist wie der Himmel an jenem Nachmittag. Etwa ein halbes Dutzend Kinder spielt hier. Ein Junge dreht auf einem Fahrrad Kreise. Im Tor steht ein Mädchen mit einem Ronaldo-Trikot von al-Nasr. Ältere Damen sitzen auf einer Picknick-Bank, vor ihnen stehen Thermoskannen. Ein Mann durchwühlt einen Altkleider-Container. Im Hintergrund schießen die Hochhaus-Türme der Weißen Siedlung in die Luft.

Der Bolzplatz an der Aronsstraße in Berlin.
Der Bolzplatz an der Aronsstraße in Berlin. © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Antonio Rüdiger ist in Neukölln aufgewachsen, mit vier Schwestern und seinem älteren Halbbruder Sahr Senesie. Ein hartes Pflaster war der Bezirk damals, voller Armut. Die Wurzeln der meisten Menschen, die hier leben, liegen im Ausland. „Es gab viel Kriminalität, es gab auch Gruppenzwang. Aber ich hatte zum Glück ein gutes Umfeld“, sagte Rüdiger mal. Heute ist die Gentrifizierung im vollen Gange. Manchmal gerät der sich so sehr wandelnde Bezirk auch heute noch in Verruf, etwa bei den Ausschreitungen in der Silvester-Nacht vor anderthalb Jahren.

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Auf jenem blauen Gummiplatz wurde Rüdiger zum Straßenfußballer. „Man hat ihm angemerkt, dass er sich dort immer wieder gegen Ältere durchsetzen musste“, sagt Tim Jauer, Rüdigers Jugendtrainer bei Tasmania Gropiusstadt. Anfang der Nuller-Jahre war das. „Er war vom Charakter her immer ein sehr liebevoller Junge, aber auch ein kleiner Heißsporn.“

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Aus Neukölln ging es für Antonio Rüdiger später mit der S-Bahn zum Training bei Hertha 03 Zehlendorf. Umsteigen musste er an Yorck-Brücken, im Ortsteil Schöneberg. Die nächste Station dieser Reise.

Arif Keles lehnt sich zurück und zündet sich eine Zigarette an. „Wir nennen uns Bruder, das ist mehr als ein Wort, das geht nicht von einem auf den anderen Tag“, sagt Keles. Er kennt seinen Stammkunden Antonio Rüdiger also lange. „Bodenständig, ein toller Mensch“, sei er. Vor ein paar Wochen hat der Inhaber des Döner-Imbisses Hisar Fresh Food als Teil der DFB-Kampagne Rüdigers EM-Nominierung verkündet.

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An der Wand hängt Rüdigers Trikot neben denen von Jamal Musiala und Leroy Sané. Wenn der Fußballer in der Stadt ist, besucht er den Laden und isst einen Döner. Kein Wunder. Er schmeckt saftig, aber nicht fettig. Und würzig, aber nicht künstlich. „Wenn er herkommt, muss ich ihn erstmal mit in den Laden nehmen, damit er seine Ruhe hat. Die Jugendlichen schwärmen von ihm und wollen ein Foto oder Autogramm haben“, erzählt Keles. „Das Besondere ist: Er sagt zu niemanden Nein. Für viele Jugendliche ist er ein Idol.“

Arif Keles, Inhaber des Döner-Imbiss „Hisar“.
Arif Keles, Inhaber des Döner-Imbiss „Hisar“. © Patrick Goldstein | Patrick Goldstein

Weil er für Real Madrid verteidigt. Vor allem aber, weil sie sich mit ihm identifizieren können. Antonio Rüdiger ist gläubiger Muslim, er ist stolz auf seine sierra-leonische Herkunft – nach dem Champions-League-Sieg hüllte er sich in die Flagge des Landes, für das er inzwischen Fußball-Botschafter ist. Seine WM-Prämie spendete er an das bitterarme afrikanische Land. Antonio Rüdiger legte einen bemerkenswerten Aufstieg hin, der – so traurig es ist – für bestimmte Bevölkerungsgruppen in Neukölln oder anderswo nicht realistisch ist. In der DFB-Elf repräsentiert er Schwarze Menschen, die in Deutschland leben. Immer wieder musste er daher auch Rassismus ertragen.

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DFB-Team: Antonio Rüdiger begleiten auch Widersprüche

Auch Widersprüche begleiten ihn. An guten Tagen ist er einer der besten Verteidiger der Welt. Er grätscht kompromisslos, legt sich mit Gegenspielern an, wenn es sein muss. Der kuriose Laufstil im WM-Spiel gegen Japan wurde ihm als Arroganz vorgeworfen. Von ihm wird oft ein Bad-Boy-Image gezeichnet. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir Menschen in eine Ecke stellen, in der wir sie haben wollen“, meint Jugendtrainer Tim Jauer. „Wir wollen immer Typen und keine Ja-Sager. Und dann ist da ein Typ, und das ist auch wieder falsch. Das ärgert mich immer ein bisschen.“

Champions-League-Sieger: Antonio Rüdiger mit Toni Kroos.
Champions-League-Sieger: Antonio Rüdiger mit Toni Kroos. © DPA Images | Tom Weller

Ein anderes Thema ist sein Glaube. Rüdiger zeigte vor einiger Zeit den „Tauhid“-Finger in die Luft, der die Einheit Gottes symbolisiert, aber eben auch von Radikalen missbraucht wird. Unglücklich, mindestens. Vielleicht eher provokant. „Dass er in eine radikale Ecke geschoben wird, finde ich nicht gut“, betont Jauer. „Diese Familie war alles andere als radikal, sondern sehr sozial. Die Mama hat für andere Kinder Essen mitgebracht, obwohl sie selbst nicht viel hatten.“

Heute ist Antonio Rüdiger millionenschwer, aber seine Herkunft hat er nicht vergessen. Weder Sierra Leone, noch den Döner-Laden in Schöneberg oder den Bolzplatz an der Aronsstraße. „Toni ist Toni geblieben, der Neuköllner geht nie aus ihm heraus“, sagt Tim Jauer. „Wenn ich sein kleiner Bruder wäre, wäre ich richtig, richtig stolz auf ihn. Aber das bin ich auch so.“

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