London. Das berühmteste Tennisturnier der Welt ist kein Terrain für Außenseiter und Nobodys. Sieht Wimbledon diesmal einen anderen Sieger.
In einem ruhigeren Moment seines emotionalen Abstechers zurück ins Rasenreich von Halle erinnerte sich Roger Federer gerade, wie vor 20 Jahren alles anfing. Die große Kehrtwende seiner Karriere. Der erste Rasentitel, der Beginn seines Wimbledon-Wunders. Aber auch die Dominanz einer kleinen Gruppe ehrenwerter Gentlemen, die das wichtigste Turnier der Welt über zwei Jahrzehnte fest im Griff hielten, quasi im Privatbesitz. „Völlig frustriert und enttäuscht“ sei er damals, 2003, von den French Open nach Halle gekommen, sagte Federer, „ich war in der ersten Runde ausgeschieden. In den Zeitungen hieß es: Aus dem wird nie was Großes. Das hat bei mir dann aber auch einen gewissen Trotz freigesetzt.“
In jenem Juni wussten weder Federer, heute 41 Jahre alt, noch die Tenniswelt, welch große Geschichte sich für den Schweizer Maestro und seine erlesensten Rivalen entwickeln würde. Federer gewann seinen ersten Pokal auf Gras, im westfälischen Halle. Kurz darauf war er schon der Rasenkönig in Wimbledon. Vier weitere Titel im All England Club folgten von 2004 bis 2007. Rafael Nadal (37) und Novak Djokovic (36) betraten die Tennisbühne, machten Federer die Herrschaft im Grünen streitig, siegten selbst. Und dann war da noch der Lokalmatador, der schottische Braveheart Andy Murray (36), der die nationale Titeldürre 77 Jahre nach Fred Perrys letztem Heimsieg im Jahr 2013 beendete.
Wimbledon: Kaum Überraschungen in der jüngeren Zeit
Was dazu führte, dass sich die Liste der Herrensieger bei der wichtigsten Leistungsmesse des Tennis seit 2003 so frustrierend für alle Herausforderer liest: Federer, Federer, Federer, Federer, Federer, Nadal, Federer, Nadal, Djokovic, Federer, Murray, Djokovic, Djokovic, Murray, Djokovic, Djokovic, Djokovic, Djokovic. Hinzu kommt: Im Sommer 1993 begann auch eine andere Episode der Übermacht eines Wimbledon-Giganten, die von Pete Sampras. Sieben Mal gewann der trockene Amerikaner bis einschließlich 2000. Zwischendrin verlor er nur ein einziges Match, 1996 gegen den späteren Champion Richard Krajicek.
Wimbledon ist der Ort, an dem sich die Größten ihrer Zeit mit der scheinbar souveränen Selbstverständlichkeit entfalteten. Das Tennis-Heiligtum an der berühmten Church Road war und ist kein Platz für spektakuläre Außenseiter und Nobodys – wer nach einem eher ungewöhnlichen Sieger und verblüffenden Finale sucht, wird in jüngerer Zeit allenfalls im Jahr 2002 fündig. Da siegte der in jener Saison führende Australier Lleyton Hewitt gegen David Nalbandian (Argentinien), es war die Übergangsphase zwischen der Regentschaft von Sampras und dem Beginn der Ära der Großen Drei. Oder, was Wimbledon angeht, der Großen Vier inklusive Murray.
Boris Becker: „Erst kommt Djokovic, dann Djokovic, dann Djokovic"
Wann wird es den ersten Champion geben, der nicht Federer, Nadal, Murray oder Djokovic heißt? Geht es nach den Experten der Branche, wird es 2023 noch nicht so weit sein. Denn mag auch der junge Spanier Carlos Alcaraz als Nummer eins der Weltrangliste und Nummer eins der Setzliste in das Turnier gehen, ist doch Djokovic der überstrahlende Favorit. Wer bei den Buchmachern auf den 36 Jahre alten Serben setzt, wird Gewinne ernten, die eher Mitleid auslösen. Nach der Thronbesteigung bei den French Open geht Djokovic gestärkt an die Aufgabe in London. Längst ist auch Wimbledon für ihn zu einem Tennis-Paradies geworden.
Siegt der Djoker, zieht er mit dann acht Titeln mit Federer gleich. Und würde sein Gesamtkonto an Grand-Slam-Erfolgen auf 24 erhöhen. Auf die Frage nach den aussichtsreichsten Siegkandidaten antwortet Deutschlands dreimaliger Wimbledon-Champion Boris Becker dies: „Erst kommt Djokovic, dann Djokovic, dann Djokovic, dann lange nichts. Und dann andere wie Alcaraz oder auch Sascha Zverev.“
Vieles hat sich in den letzten Jahrzehnten in Wimbledon verändert. Es gab ehedem Unvorstellbares zu bestaunen, ein Dach erst über dem Centre Court, später auch über Court 1. Der heilige Rasen wurde in seiner Mischung immer wieder verändert, mal war das Grand-Slam-Terrain langsamer, mal schneller. Geblieben ist, wie die berüchtigt teuren Erdbeeren oder der Pimm´s-Drink, die Schlagmacht einiger weniger Tennisgrößen. Federer ist im Ruhestand. Nadal, körperlich geschunden, in einer Art Vorruhestand. Aber Djokovic ist noch da. „Sein Hunger ist noch längst nicht gestillt“, sagt Goran Ivanisevic, der einstige „Herr der Asse“ und Trainer von Djokovic. Und, ganz nebenbei, der Wild-Card-Sieger des Jahres 2001.