Für Willi Lemke gehört der Medaillenspiegel abgeschafft. Als ob Olympia nicht andere Sorgen hätte. Ein Kommentar
Und, heute schon in den Spiegel geschaut? Nein, nicht in den, der in ihrem Badezimmer hängt. Sondern in den Medaillenspiegel von Rio, den Sie auch in dieser Zeitung vorfinden.
Die Auflistung sportlicher Erfolge nach Ländern ist so beliebt wie umstritten. Dabei gibt es nicht einmal eine einheitliche Regelung. Im Gegensatz zu den meisten Ländern bestimmt etwa in den USA nicht die Zahl der Goldmedaillen, sondern die Summe aller Medaillen die Reihenfolge, weil sich die Amerikaner davon einen Vorteil versprechen.
Nach welchem Modus der Medaillenspiegel auch immer zusammengestellt wird - sein Sinn wird regelmäßig in Frage gestellt. Aktuell ist es der frühere Bremer Fußball-Manager Willi Lemke, inzwischen UN-Sonderbotschafter für Sport, der für seine Abschaffung plädiert. Als hätte Olympia keine anderen Sorgen.
„Für mich“, sagte Lemke der Rheinischen Post, „sind nicht Medaillen wichtig, um ein Land einzustufen, sondern zum Beispiel wie man in der Gesellschaft mit Menschen mit Beeinträchtigungen umgeht.“ Wer wollte ihm da widersprechen? Und es stimmt natürlich auch, dass Staaten versuchen, „mit Hilfe der Erfolge die Stärke ihrer politischen Systeme zu zeigen“.
Nur: Dazu bedarf es nicht eines Medaillenspiegels, der im Übrigen keine Erfindung des viel gescholtenen Internationalen Olympischen Komitees, sondern der Medien ist. Im Dritten Reich reichte den Nazis schon Max Schmelings spektakulärer K.o.-Sieg über Joe Louis (O-Ton aus der Radio-Reportage: „Der Neger wankt“), um damit die angebliche Überlegenheit der weißen Rasse zu demonstrieren.
Als hier zu Lande nach der Wende Thüringen bei Olympischen Winterspielen einen eigenen Medaillenspiegel präsentierte, in dem das neue Bundesland zeitweilig vor Rest-Deutschland lag, durfte man dies bescheuert oder witzig finden. Dass die Bild-Zeitung derzeit aus Protest gegen Putins Doper den Medaillenspiegel ohne Russland abdruckt, ist eher albern als mutig. Ohnehin ist nicht der Medaillenspiegel das Problem, sondern das, was in ihn hineininterpretiert wird.
Nebenbei: Manchmal ist es ganz gut, nicht in einen Spiegel zu schauen. Etwa an einem verkaterten Morgen. Oder, wenn bei Olympia das eigene Team gerade vergleichsweise schlecht aussieht …