Doha. Der 44-Jährige ist der jüngste Trainer dieser WM. Auch vor dem Halbfinale gegen Kroatien setzt er auf Geschlossenheit

Lionel Scaloni hatte eine Botschaft vorbereitet, und es dauerte nicht lange, bis er sie loswerden konnte. Die Vorgänge im Viertelfinale gegen die Niederlande mit hässlichen Gesten und Zankereien noch weit nach Schlusspfiff beschäftigten die Fußballwelt schließlich auch am Montag noch. „Ich nehme die Gelegenheit wahr, um das Thema aus der Welt zu schaffen“, erklärte Argentiniens Nationaltrainer also. „Das Spiel wurde so gespielt, wie es beide Mannschaften spielen mussten. Das ist Fußball. Wir müssen mit der Vorstellung aufräumen, dass Argentinien nicht versteht, zu gewinnen und zu verlieren. Sie ist weit weg von der Form, in der wir dieses Land repräsentieren.“

Scaloni, 44 Jahre alt, schlüpfte damit wieder in seine Paraderolle. Der jüngste Trainer dieser WM hat sich auf die Fahnen geschrieben, den argentinischen Fußball von seiner Theatralik zu befreien. „Der Eindruck ist, dass es um mehr geht als Fußball“, hatte er nach dem umkämpften Sieg im Gruppenspiel gegen Mexiko gesagt: „Das spüren auch die Spieler, wenn sie den Platz betreten. Ich finde, dass wir das korrigieren sollten. Sonst können wir den Leuten nie erklären, dass die Sonne wieder aufgeht, egal ob wir gewinnen oder verlieren.“

Bollwerk ist Argentiniens Stärke unter Scaloni

Egal, ob sie gewinnen oder verlieren? Wo zehntausende Argentinier die Mannschaft nach Katar begleitet haben? Wo seit Monaten die Heldengeschichte beschworen wird, dass der siebenmalige Weltfußballer Lionel Messi sich bei seiner fünften Endrunde doch noch zum Weltmeister krönen könnte? Und wo, vor allem, Argentinien nun mal Argentinien ist, das Land der ungezügelten Fußball-Leidenschaft? Scaloni weiß, dass er einen Kampf wie Don Quijote gegen die Windmühlen führt. „Leider ist es nicht dasselbe, mit diesem Hemd zu spielen wie mit anderen“: So sagte er es selbst nach dem Mexiko-Spiel.

Damals, Ende November, stand Argentinien nach der sensationellen 1:2-Auftaktpleite gegen Saudi-Arabien vor dem Ausscheiden. Doch die Wende gelang, und von da an machte Argentinien meistens wieder das, was es unter Scaloni fast immer tut. Es steht hinten enorm sicher, unterbindet gegnerische Angriffe meist schon im Entstehen und lässt sich allenfalls durch unvorhergesehene Manöver irritieren wie Louis van Gaals Einwechslung großer Kopfballspieler in der Schlussphase des Viertelfinals. Es kombiniert gefällig im Mittelfeld, es dominiert und kontrolliert. Und es bietet Superstar Messi ein Habitat, in dem sich dieser optimal entfalten kann.

Es ist, mit anderen Worten, eine Mannschaft mit einer klaren Trainerhandschrift, die vergangenes Jahr ihre erste Südamerikameisterschaft seit 1993 gewann und jetzt nur noch zwei Siege vom ersten WM-Titel seit 1986 entfernt ist. An diesem Dienstag geht es im Halbfinale gegen Kroatien (20 Uhr/ARD). Lionel Messi trifft auf Luka Modric, und beide Stars treffen auf ihre Geschichte, denn der Argentinier erzielte am 1. März 2006 sein erstes Länderspieltor im selben Match, in dem der Kroate für sein Land debütierte. Aber vielleicht wichtiger: Mit Kroatien beginnt gewissermaßen auch die Geschichte des Nationaltrainers Scaloni.

Lob von Starspieler Lionel Messi

Der ehemalige Profiverteidiger aus dem Ort Pujato – eine gute halbe Stunde entfernt von Rosario, der Heimat Messis – gehörte als Gegner-Analyst zum argentinischen Trainerteam bei der WM 2018. In der Gruppenphase wurde man von Kroatien mit 0:3 düpiert, was zum zweiten Platz und einem Achtelfinale gegen den späteren Weltmeister Frankreich führte. Das schwache Abschneiden und die chaotischen Begleitumstände mit Gerüchten über eine Spielerrebellion bedingten den Rücktritt von Nationaltrainer Jorge Sampaoli. Und weil sonst gerade niemand verfügbar war, wurde die Mannschaft interimsmäßig Scaloni und seinen Assistenten Pablo Aimar und Walter Samuel übertragen, die gerade erst nach der WM die U20 übernommen und sie zu ersten Siegen geführt hatten.

Kaum einer hätte damals gedacht, dass die argentinische Nationalelf heute im Land auch als „Scaloneta“ bezeichnet wird, in etwa: der „Scaloni-Bus“. Dass eine Trainerlegende wie Bora Milutinovic das Betreuerteam als eigentliches Erfolgsgeheimnis des Halbfinalisten bezeichnet, vor Messi, und dass dieser selbst sagt: „Diese Mannschaft hat sich dank ihm formiert.“ Doch Scalonis sachliche, menschliche und allürenfreie Art – er trägt immer nur Trainingsanzug – sowie seine taktische Kompetenz überzeugten. Drei Monate nach der Verpflichtung als Interimstrainer wurde er im November 2018 mit einem Vertrag ausgestattet. „Das Beste an ihm ist die Kommunikation und die Handhabung der Gruppe“, sagt Messi.

Nach Sieg gegen Mexiko Tränen in den Augen

So richtig durchgekommen ist Scaloni nur noch nicht mit seiner Entdramatisierungs-Botschaft. Nicht mal bei ihm selbst: Nach dem Sieg gegen Mexiko hatte er Tränen in den Augen, so wie auch vor dem Spiel gegen Holland, als ihm ein Video mit Grüßen der Kinder aus seiner alten Schule in Pujato gezeigt wurde. Und vor der Verlängerung schien auch er am Rande des Nervenzusammenbruchs zu sein, als er hysterisch auf den Schiedsrichter einredete. Letztlich ist eben auch Lionel Scaloni selbst: Argentinier.