Doha. Marokkos denkwürdiger Sieg gegen Portugal löst eine große Euphorie aus. Im WM-Halbfinale am Mittwoch wartet ausgerechnet Frankreich.

Weit über eine Stunde nach Spielschluss kam ein WM-Mitarbeiter in die Interviewzone, wo die Journalisten auf tiefergehende Einblicke in einen historischen Abend warteten. Irgendwann würden die Spieler schon vorbeischauen, sagte der Mitarbeiter, und natürlich sei keinem verboten zu warten. Aber jetzt erst mal brauche man mit niemandem zu rechnen. Die Spieler feierten gerade mit Marokkos Verbandspräsidenten, alles Weitere werde man sehen. Nur so zur Orientierung.

Alles Weitere war dann zum Beispiel ein rauschender Empfang im Teamhotel. Roter Teppich, rote und grüne Ballons, Luftschlangen, Tröten, irgendwann alles nur noch Lärm und Bälle, die durcheinander flogen, fast wie vorher im Stadion. Immerhin die Torte mit den historischen Ergebnissen der letzten Wochen überlebte den Einzug der Matadoren. Kroatien 0:0. Belgien 2:0. Kanada 2:1. Spanien 3:0 (im Elfmeterschießen). Portugal 1:0. Ja, auch Portugal wurde geschlagen von den famosen Afrikanern.

Marokko schreibt Fußball-Geschichte

Und so brauchte es für die grobe Richtung am Samstagabend keine Orientierung, denn der Weg führte direkt in die Fußballgeschichte. 1986 hatte Marokko als erstes afrikanisches Team die K.o.-Runde einer Weltmeisterschaft erreicht und war im Achtelfinale kurz vor Schluss einem 30-Meter-Freistoß von Lothar Matthäus unterlegen. Vier Jahre später schaffte Kamerun das Viertelfinale und eine unglückliche Niederlage nach Verlängerung gegen England. So wie Senegal 2002 gegen die Türkei, ebenfalls nach 120 Minuten, und wie Ghana 2010 gegen Uruguay, sogar im Elfmeterschießen. Was um die Jahrtausendwende, als die Experten einen baldigen WM-Titel für Afrika vorhersagten, als bloße Frage der Zeit erschien, wurde mit den Jahren zur düsteren Mauer. Das WM-Halbfinale, für die Afrikaner schien es ein Schloss mit sieben Siegeln.

Marokko hat es nun geknackt. „Wir schaffen Wunder“, sagte Torwart Bono, dessen unerschütterliche Souveränität in diesem Turnier schon gar keine Nachricht mehr ist. Seine Parade gegen João Félix in der 83. Minute und das nötige Glück bei einem Lattenschuss von Bruno Fernandes in der 45. Minute sowie bei einem Kopfball von Pepe in der siebten Minute der Nachspielzeit: Das waren die kritischsten Momente nach Youssef En-Nesyris Kopfballtor zur Führung (42.). Den Rest schrien die entfesselten marokkanischen Fans im Al-Thumama-Stadion einfach weg. Mit gellenden Buhrufen und Pfiffen bei jeder portugiesischen Ballstafette. Und mit einem euphorischem Evergreen in Spielpausen und eigenen Drangphasen: „ole, ole, ole, oleeeeeeeee“.

Ein Underdog-Märchen bei der WM

Und so hat diese WM in Arabien also den ersten arabischen WM-Halbfinalisten der Geschichte hervorgebracht. Nach 2002 (Südkorea) ist es überhaupt das zweite Mal, dass Europäer und Amerikaner in der Vorschlussrunde nicht unter sich sind. Es ist ein Underdog-Märchen, wie es zu einer WM in einem Land passt, in dem die meisten Menschen Underdogs sind. Eingewandert aus bitterarmen Verhältnissen in anderen Teilen Asiens oder in Afrika, um sich in Katar eine bessere Zukunft zu erarbeiten.

In Doha waren auf den Straßen in der Nacht zum Sonntag immer wieder Hupkonzerte zu vernehmen. Im Zentrum feierte die ständig wachsende marokkanische Fankolonie, und wer immer sich ihnen anschließen mochte. Sonderflüge aus Rabat und Casablanca hatten noch mehr Anhänger aus der Heimat spontan nach Katar gebracht, wo der marokkanische Verband nach Medienberichten tausende Tickets verschenkte, die er vom Organisationskomitee erhalten hatte. Die Marokkaner – die Aktion galt nur für Staatsbürger – schliefen dafür teilweise nachts auf dem Boden in der Warteschlange. Die wenigen, die es sich leisten konnten, zahlten rund 600 Dollar am Schwarzmarkt.

Marokkos Trainer Regragui: Mit Pragmatismus und Pathos

Obenauf: Marokkos Trainer Walid Regragui wird von seinen Spielern in die Luft gehievt.
Obenauf: Marokkos Trainer Walid Regragui wird von seinen Spielern in die Luft gehievt. © Getty Images | Getty Images

Keiner dürfte es bereut haben, denn es gab ja den „Rocky Balboa dieser WM“ zu sehen. So sagte es Marokkos Trainer Walid Regragui, der ein wahres Meisterwerk geschaffen hat. Nach dem Gewinn der afrikanischen Champions League mit Wydad AC aus Casablanca übernahm er erst im August eine teils verkrachte Mannschaft vom Bosnier Vahid Halilhodzic und infizierte sie mit seiner Erfolgsformel aus Pragmatismus auf dem Platz und Pathos in den Herzen. Der historische Erfolg wird noch spezieller dadurch, dass ihn ein marokkanischer Trainer erreichte bei einer WM, während der erstmals alle afrikanischen Teams von Einheimischen betreut wurden.

„Wir müssen die rigorose europäische Taktik mit unserer Identität vermischen“, hatte Regragui seiner Mannschaft seit Turnierbeginn aufgetragen. Diszipliniert, leidenschaftlich und am Rande der Perfektion belegt sein Team doppelt und dreifach die Räume. Keine Mannschaft bei diesem Turnier kommt auf so viele Klärungsaktionen (137) und Balleroberungen (52) wie Marokko. Keine lässt so wenige Schüsse zwischen die drei Pfosten zu (elf). Keine hat so wenige Gegentore bekommen (eines, ein Eigentor gegen Kanada). Doch Regraguis Appelle machen offenbar auch Sprünge wie den von En-Nesyri möglich. 2,78 Meter ermittelte „Bein Sports“ als Flughöhe bei seinem Kopfballtor, das sind Werte, wie man sie im Fußball bisher nur von Cristiano Ronaldo kannte.

Den hat Marokko am Samstag eliminiert. Nun kommt Frankreich, das Geburtsland Regraguis und eine von Marokkos ehemaligen Kolonialmächten. Die andere, Spanien, haben sie schon im Achtelfinale geschlagen auf ihrem Weg durch die Geschichte.