Lemgo. Handball-Legende Florian Kehrmann hat den TBV Lemgo Lippe als Trainer stabilisiert. Am Samstag wartet der THW Kiel im Supercup.
Es kommt nicht häufig vor, dass im Supercup ein Team aufläuft, mit dem zuvor kaum einer gerechnet hatte. Doch am Samstag wird neben dem Deutschen Handball-Meister THW Kiel der Überraschungs-Pokalsieger TBV Lemgo Lippe die traditionelle Saisoneröffnungs-Veranstaltung der Handball-Bundesliga in Düsseldorf bestreiten (19 Uhr/Sky). Lemgo-Trainer Florian Kehrmann (44) weiß um die besondere Situation – und der Weltmeister von 2007 möchte, dass sein Team sie nutzt.
Am 4. September beginnt die neue Saison mit dem Super Cup. Welchen Stellenwert hat das Spiel für Sie?
Florian Kehrmann: Grundsätzlich geht es darum, einen Titel zu gewinnen. Und wenn das so früh in der Saison schon der Fall ist, umso besser. Zumal wir an einem Event wie dem Super Cup ja auch nicht alle Jahre teilnehmen als Mannschaft, die sonst eher im Mittelfeld der Liga zu finden ist.
Bis zu 8000 Zuschauer werden dabei sein. Wie groß ist die Vorfreude?
Florian Kehrmann: Beim Pokal-Finalwochenende gab es ja schon ein paar Zuschauer, nun werden es immer mehr werden, es wird hoffentlich der Beginn zurück zur Normalität sein. Ich glaube trotzdem, dass man auch den Zuschauern etwas Zeit geben muss, sich wieder an die Situation zu gewöhnen. Wir können nicht davon ausgehen, dass alle wieder sofort in die Halle strömen. Wir müssen so tollen Handball spielen, dass die Fans auch wieder in die Hallen wollen. Aber wir freuen uns natürlich, dass wir wieder mehr Unterstützer haben.
Irgendwie ist es aber auch surreal, oder? Jahrelang ging es für den TBV Lemgo Lippe darum, nicht abzusteigen, und nun stehen Sie mit Ihrem Team als Pokalsieger in der Saisoneröffnung.
Florian Kehrmann: Ja, das ist eine schöne Situation. Deshalb wollen wir auch nicht nur hinfahren und den Super Cup als Vorbereitungsspiel auf die kommende Saison sehen. Wir gucken von Spiel zu Spiel, bereiten uns entsprechend auf die Liga vor – aber das Ziel ist erst einmal, ein gutes Spiel im Super Cup zu machen
Ist Kiel ein guter Gradmesser?
Florian Kehrmann: Klar ist Kiel der große Favorit und durch die Niederlage im Pokal-Halbfinale wird der THW noch einmal mehr gewarnt sein. Das wird Anfang Juni eine große Schlappe für die Kieler gewesen sein. Aber generell gibt es einfach keinen schlechten Zeitpunkt, gegen den THW zu spielen. Kiel wird immer der Favorit sein, in der Vorbereitung und wann immer man in der Saison aufeinandertrifft. Wir werden uns entsprechend vorbereiten und wir wollen das Spiel gewinnen.
Mit dem Pokalerfolg 1995 hatte die große Ära des TBV begonnen, in der es zwei Meisterschaften, zwei weitere Pokalsiege sowie die internationalen Siege im Europapokal der Pokalsieger und EHF-Pokal folgten. Könnte der jüngste Pokalerfolg vielleicht einen ähnlichen Effekt haben?
Florian Kehrmann: Ich glaube, die Zeiten haben sich ein bisschen geändert. Natürlich sind wir noch immer froh über das, was wir damals geleistet haben. Aber der Handball ist noch einmal professioneller geworden, alles hängt viel mehr von wirtschaftlichen Faktoren ab. Da gehören wir bei weitem nicht zu den Top 5 oder Top 6 der Liga. Es gibt Mannschaften, die haben wahrscheinlich mehr als den doppelten Etat von uns. Klar kann man punktuell solche Erfolge wie den Pokalsieg feiern, aber langfristig dahinzukommen… das wird ein ganz, ganz weiter Weg. Für uns wird es weiter darum gehen, junge Spieler mit viel Potenzial zu Topspielern zu formen und mit dieser Entwicklung auch beim TBV gute Leistungen zu bringen. Natürlich muss es auch weiterhin das Ziel sein, um Platz vier bis acht und vielleicht europäisch zu spielen. Da gibt es viele Vereine, die wirtschaftlich an uns vorbeigezogen sind. Wir müssen einfach weiter unsere Hausaufgaben machen.
In den vergangenen Jahren ging es aber stets bergauf, in der vergangenen Saison wurden Sie Neunter und Pokalsieger – und das in einer Saison mit viel Verletzungspech, wochenlangen Quarantänephasen und einem Endspurt mit 17 Spielen in knapp acht Wochen.
Florian Kehrmann: Das Motto in der Corona-Zeit war ja, flexibel zu sein und mit den vielen Rückschlägen umgehen zu müssen. Das haben wir überragend gemacht, das müssen wir aber auch in Zukunft so machen. Wir haben immer noch wichtige verletzte Spieler zum Saisonstart, wir müssen unsere Olympia-Spieler einbauen und die Corona-Situation ist ja immer noch unsicher. So heißt es auch dieses Jahr wieder: flexibel sein, sich durch Rückschläge nicht verrückt machen lassen, Ruhe bewahren, weiter gut arbeiten. Das ist das, was zuletzt beim TBV in allen Bereichen sehr gut geklappt hat.
Was ist denn die Philosophie des Klubs? Die Zeiten des „TBV Deutschland“, in denen Nationalspieler wie Daniel Stephan, Christian Schwarzer, Markus Baur und Achim Schürmann das Lemgo-Trikot trugen, sind längst vorbei.
Florian Kehrmann: Es wird sicherlich Umbrüche geben, wir haben Jonathan Carlsbogard in vier Jahren zu einem der Topspieler der Liga ausgebildet, den werden wir nicht mehr lange halten können. Dann müssen wir den nächsten wieder dahin bringen. Tim Suton haben wir zum Nationalspieler geformt und Spielern, die in anderen Vereinen noch keine tragende Rolle gespielt haben, zu dieser verholfen. Wir haben junge Talente wie Lukas Hutecek. Wirtschaftlich werden wir nicht mit den Großen mithalten, auch mit den Großstadtprojekten wie Leipzig, Hamburg, Erlangen oder Nürnberg werden wir nicht mithalten können, wir müssen es über eine andere Schiene schaffen. Das ist auch eine Herausforderung.
Ein Stück Tradition wird aber gepflegt. Lukas Zerbe, der Neffe von Volker Zerbe und Kian Schwarzer, der Sohn von Christian Schwarzer, sind Teil des Teams.
Florian Kehrmann: Das ist das, was wir vielleicht in der „dunkleren Vergangenheit“ mit dem fast finanziellen Kollaps und einem Stück Identitätsverlust verloren haben. Wir versuchen, da wieder etwas aufzubauen: Die Nähe zur Region Ostwestfalen-Lippe, dass wir das Aushängeschuld und eine Art Familie sind. Dass Familien wieder zusammenkommen. Dass ein Lukas Zerbe als Lemgoer Junge es geschafft hat, bei uns zum gestandenen Bundesligaprofi zu werden und eine tragende Säule zu sein, und Kian Schwarzer als Sohn eines ganz großen Handballspielers jetzt anklopft. Aber es geht nicht um die Namen, die Jungs müssen sich selbst durchbeißen. Das macht es vielleicht auch umso schwerer. Es verdient viel Respekt, dass die Jungs es trotz der großen Namen geschafft haben. Ich glaube, das kommt auch bei den Fans gut an, wir sind schon eine sehr authentische Mannschaft.
Apropos Tradition: Sie haben 15 Jahre lang in Lemgo gespielt, wurden nach ihrem Karriereende Jugendtrainer und sind seit 2014 Trainer der Profis. Eine lange Zeit im schnelllebigen Handballgeschäft.
Florian Kehrmann: Allgemein im Profisport, ja. Aber irgendwie läuft die Zeit einfach so weg. Wenn ich überlege, dass es sieben Jahre her ist, dass ich mein Abschiedsspiel gemacht habe und mittlerweile zweitdienstältester Trainer beim selben Klub bin, dann sieht man das. Anfangs habe ich mich auch gefragt: Ist das was für mich? Schaff ich das? Mittlerweile hat man viel Routine drin und muss trotzdem gucken, dass man sich immer weiter entwickelt. Aber es macht ja auch Spaß, ich habe hier eine tolle Aufgabe, es gibt mir viel, mit jungen Spielern zu arbeiten und diese zu entwickeln. Es gab sicher auch als Spieler schon Zeitpunkte, an denen man den Verein hätte verlassen können, an denen es einen anderen Weg gab. Aber ein paar Dinge haben mich immer hier gehalten, irgendwie muss ich mich hier sehr wohl fühlen (lacht). Aber ich bin nicht blauäugig und denke, dass ich immer hier bleiben werden. Ich kenne den Sport, habe auch hier viel miterlebt. Das kann ganz schnell gehen. Je höher die Erwartungen sind, umso höher ist die Fallhöhe. Deshalb muss man immer weiterarbeiten, sich weiterentwickeln. Man wird immer am Jetzt gemessen, nicht an der Vergangenheit. Und das ist auch gut so.
Sie wurden zum Trainer der vergangenen Saison gewählt. Hat Sie das verändert?
Florian Kehrmann: Ich hatte ja die Freude, als Spieler ein paar Auszeichnungen und Erfolge mit der Mannschaft feiern zu können. Ich pflege es immer, als Spieler und auch als Trainer, Niederlagen als nicht so schlimm anzusehen, sondern als Herausforderung, aber auch Siege und Titel nicht zu hoch zu hängen. Man freut sich, die Trainerehrung macht mich stolz, weil sie von der Liga, von den Kollegen kommt, es ist keine Fanwahl. Aber spätestens beim Super Cup zählt das nicht mehr, dann wird geschaut, wie wir auftreten. Erfolg muss man immer bestätigen, darauf kann man sich nicht ausruhen.
Jüngst gab es ein Testspiel gegen Tusem Essen mit einem 43:30-Sieg, im Mai gab es das torreiche 39:37 im Bundesliga-Vergleich. Werden Sie Essen in dieser Saison nicht vermissen?
Florian Kehrmann: Ich vermisse den Tusem sicherlich, ich habe ja auch in der Essener Jugend gespielt und hätte mich gefreut, wenn sie drinbleiben. Sie spielen ja wirklich einen schönen und intensiven Handball, einen Handball mit offenem Visier und einer jungen Mannschaft. Aber der Tusem wird in der 2. Liga sicher wieder gut mitmischen. Es waren immer schöne Vergleiche und enge Spiele.
Viele Altmeister stecken in der 2. Liga, der Tusem, VfL Gummersbach, TV Großwallstadt. Gut, dass nun Klubs wie der HSV Hamburg und TuS N-Lübbecke in die Bundesliga zurückkehren?
Florian Kehrmann: Lübbecke hat sicherlich eine große Tradition mit dem zweimaligen Gewinn des Citycups und sie haben in der Liga in höheren Regionen gespielt und sind Hamburg in Sachen Tradition noch einmal weit voraus. Aber klar ist der HSV ein Schwergewicht durch den Gewinn von Champions League und Meisterschaft. Aber ich glaube, wir haben so viele Traditionsteams und spannende Projekte hier. Es wird eine sehr interessante 1. Liga, nicht nur in der Spitze, auch im Mittelfeld und im Abstiegskampf. Aber auch eine sehr spannende 2. Liga mit Gummersbach, der HSG Nordhorn-Lingen oder dem Tusem, die alle wieder hoch wollen.
Werfen wir einen Blick in die Glaskugel: Wer wird Meister?
Florian Kehrmann: Ich glaube, am THW Kiel und der SG Flensburg-Handewitt führt kein Weg vorbei. Dann gibt es ja immer eine Mannschaft, die es schafft, ein bisschen den Anschluss zu halten und die beiden oben unter Druck zu setzen. Da gehören dann Magdeburg, Berlin, Melsungen und die Rhein-Neckar Löwen dazu. Aber es ist auch eine lange Saison, da kann sich viel entwickeln.
Sie sind verdienter Nationalspieler. Wie haben Sie die Rücktritte von Uwe Gensheimer, Steffen Weinhold und die Auszeiten von Hendrik Pekeler und Johannes Bitter wahrgenommen?
Florian Kehrmann: Es ist immer schade, wenn verdiente Nationalspieler diesen Schritt dann irgendwann machen. Letztendlich ist jede Entscheidung nachzuvollziehen. Ja, es ist schade, sie sind ja wirklich Gesichter des deutschen Handballs. Letztendlich hat Alfred Gislason als Bundestrainer immer noch eine sehr schöne Aufgabe, das Spektrum an guten Spielern ist groß. Das Ziel bei der EM im Januar muss daher wieder Halbfinale lauten, egal, in welcher Besetzung.