Tokio. Das Flüchtlingsteam wird in Tokio liebvoll begrüßt. Auf Menschen in Not, die im Land Zuflucht suchen, reagiert Japan jedoch kaltherzig
brahim Al Hussein strahlt sichtbar durch seine Maske hindurch. „Ich bin so dankbar“, sagt er. „Als ich vor ein paar Tagen am Flughafen in Tokio ankam, hat mir ein Schulvertreter dieses Album mit Fotos und Botschaften überreicht.“ Al Hussein zeigt ein liebevoll gestaltetes Büchlein in den Saal der Pressekonferenz, woraufhin Fotografen sofort ihre Kameras zücken. „Ich bin wirklich glücklich, dass ich hier sein kann“, sagt der 32-jährige in seiner Muttersprache Arabisch.
Der Syrer Al Hussein ist einer von sechs Athleten im Flüchtlingsteam des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC). Er und fünf weitere Sportlerinnen und Sportler aus Afghanistan, Burundi und Iran schreiben Geschichte. Nach Rio 2016, als erstmals „unabhängige Athleten“ ins Rennen geschickt wurden, gibt es nun in Tokio zum ersten Mal ein koordiniertes Flüchtlingsteam, das auch offiziell diesen Namen trägt. „Wir stehen für die 82 Millionen Flüchtlinge auf der Welt, und besonders für die 15 Prozent Menschen darunter mit einer Behinderung“, hieß es auf der Pressekonferenz vor der Eröffnungsfeier.
Symbol der Menschlichkeit
Für das Gastgeberland Japan, wo nach den Olympischen Spielen auch die Paralympics angesichts einer sich täglich verschlimmernden Pandemielage mit reichlich Kontroversen starten, sorgt das Flüchtlingsteam für positive Nachrichten. Es steht für Menschlichkeit in einer oft brutalen Welt, für Großzügigkeit in einem auf viele Weise durchkommerzialisierten Sportgeschäft. Zugleich passt es so gut in die Geschichte, die die Paralympics von sich erzählen wollen: dass für Menschen mit einem starken Willen keine Aufgabe zu groß ist.
Ibrahim Al Hussein kommt aus dem Osten Syriens, ist der Sohn eines Schwimmlehrers, der ihn auch für diesen Sport faszinierte. Im Jahr 2013, als seit zwei Jahren der bis heute anhaltende Bürgerkrieg im Land wütete, wurde Al Hussein von einer Bombe getroffen, woraufhin er seinen rechten Unterschenkel verlor. Seine Flucht aus Syrien führte ihn über die Türkei nach Griechenland. 2016 nahm er in Rio erstmals an den Paralympischen Spielen teil, damals als einer der „unabhängigen Athleten.“ Dass er in Tokio nun als Flüchtling zählt, mache ihn stolz.
Und einigen Bekundungen aus dem Gastgeberland nach zu urteilen, gibt es auch in Japan große Sympathien für den Schwimmer und die anderen Sportler und Sportlerinnen. Bei der Pressekonferenz kurz vor dem Start liest Teddy Katz, IPC-Offizieller und Attaché des Flüchtlingsteams, Briefe vor, die Menschen aus Tokio an Ibrahim Al Hussein und die anderen Athletinnen und Athleten geschrieben haben. „Der hier ist von einem Sechstklässler: ‚Lieber Ibrahim, gib niemals auf!‘ Und ein Rentner schreibt: ‚Niemand wird dieses Team stoppen können. Ich werde den Flüchtlingen die Daumen drücken.‘“
Es sind schöne Botschaften, die mit der größeren Realität im Gastgeberland wenig zu tun haben. Kaum ein Land der Welt zeigt Flüchtlingen so deutlich die kalte Schulter wie Japan. Im Jahr 2020 wurden 47 Flüchtlinge ins Land aufgenommen, woraus sich eine Annahmequote von 1,2 Prozent ergab. Zum Vergleich: In Deutschland und der EU werden ungefähr ein Drittel der Anträge positiv bewertet. Deutschland, dessen Bevölkerung um rund die Hälfte kleiner ist als die Japans, nimmt ungefähr 1.150-mal so viele Flüchtlinge auf.
Ein häufig genanntes Argument dafür, warum sich japanische Behörden mit der Aufnahme von mehr Menschen in Not schwertun, ist das Procedere. Zwar ist Japan als Unterzeichnerstaat der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 dazu verpflichtet, verfolgten Personen Asyl zu gewähren. Da aber viele Personen ohne entsprechende Dokumente ankommen, werden die allermeisten Personen abgelehnt. Natürlich besteht das Problem, dass sich Menschen nicht vollständig ausweisen können, auch in anderen Ländern. Vielerorts wird deutlich kulanter damit umgegangen.
Absurde Proportionen in Japan
Dabei war Japan zuletzt für die eigenen Verhältnisse noch großzügig: Die 47 aufgenommenen Flüchtlinge im Jahr 2020 markierten die höchste Zahl der letzten zehn Jahre. Der niedrigste Wert war im Jahr 2014: sechs. Das kleine IPC-Flüchtlingsteam, das nun in Tokio angekommen ist, ist also genau so groß wie die Gesamtpopulation der vor einigen Jahren über zwölf Monate aufgenommenen Flüchtlinge im ganzen Land. Auf dieses absurde Verhältnis angesprochen, sagt Teddy Katz, der vor allzu politischen Äußerungen zurückschreckt: „Wir wollen alle Länder dazu ermutigen, Flüchtlinge aufzunehmen.“
Wobei man insbesondere im Kontext jüngerer Vorkommnisse das paralympische Gastgeberland ermutigen könnte. Seit Monaten wird in Japan der Fall einer 33-jährigen Sri Lankanerin diskutiert, die als Flüchtling anerkannt werden wollte und dann in einem Aufnahmezentrum festgehalten worden war. Nach Misshandlungen durch Beamte starb die Frau im März. Wie es genau dazu gekommen ist, bleibt auch deshalb unklar, weil diverse Dokumente geschwärzt worden sind. Es war nicht der erste Todesfall in einem Auffanglager.
Aber bei den Paralympics soll es um die positiven Geschichten gehen. Das hat wohl auch Ibrahim Al Hussein verstanden. Auf die Frage, was er empfinde, wenn er als Mitglied des Flüchtlingsteams in ein Land reist, das strukturell flüchtlingsfeindlich wie kaum ein zweites ist, kommt er schnell auf das ihm geschenkte Fotoalbum zurück: „Die Leute sind wirklich sehr herzlich. Das hätte ich nie gedacht.“ Und das motiviere den Schwimmer umso mehr.