Sotschi. Auf die Leichtigkeit des BVB-Spielers stützen sich vor dem Schweden-Spiel die deutschen Hoffnungen. Kann er die Erwartungen erfüllen?
Marco Reus hat neulich ein hübsches Wort erfunden. Es lautet: verkruxt. Genau so sei das nämlich mit diesen Weltmeistern, die zum nächsten Turnier fahren, um dann doch zumeist früh oder sehr früh auszuscheiden. Seit der letzten Titelverteidigung 1962 erging es noch den meisten goldberegneten Teams so. Eine gar furchteinflößende Serie. Verflucht. Eine Krux. Verkruxt eben.
Dass Reus aber nun schon kurze Zeit später derjenige sein würde, auf den sich alle Hoffnungen auf Linderung des kollektiven deutschen Fußball-Schmerzes stützen, hätte er in diesem Moment auch nicht zwingend erwartet. Am Samstag (20 Uhr / ARD live) beim zweiten Vorrundenspiel gegen Schweden in Sotschi droht nach dem erschütternden 0:1 gegen Mexiko schon das abrupte Ende des Turniers. Und das Motto in Deutschland scheint zu lauten: Reus oder raus.
Reus gehört zu den Gewinnern des Trainingslagers
Zu viel Druck für einen, der gerade erst sein erstes WM-Spiel absolviert hat? „Ich bekomme das auf jeden Fall mit, das ist gar nicht anders möglich“, sagt Reus über die Unterstützungsbewegung. „Aber es liegt nicht in meiner Hand. Der Bundestrainer kennt mich jetzt auch schon länger und weiß um meine Fähigkeiten. Ich hoffe, dass ich zum Einsatz komme.“ Mit Julian Draxler, Mesut Özil und Thomas Müller balgt er sich um die Positionen hinter der Sturmspitze Timo Werner.
Reus, der Profi von Borussia Dortmund, der kurz vor der Reise nach Russland 29 Jahre alt geworden ist, gehörte ohnehin schon zu den Gewinnern des Trainingslagers. Gegen Mexiko saß er zunächst nur auf der Bank, sorgte aber nach seiner Einwechslung vor der finalen halben Stunde für deutlich mehr Freude im deutschen Spiel. „Irgendeinen Impuls wird es schon geben“, deutete Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff am Mittwoch Veränderungen für die deutsche Mannschaft an. Eine soll, wird, muss Reus sein. Eine Figur, die für etwas steht, das der Mannschaft beim sehr unlebendigen Auftakt fehlte: Leichtigkeit.
„Jeder hat seine eigene Identität“, sagt einer, der sich mit Leichtigkeit eigentlich auskennt, aber im ersten Spiel bleischwer wirkte: Thomas Müller. Er meinte damit: Spielidentität. Aber genauso richtig ist: Gegenwartsidentität. Müller und die anderen sechs Bayern-Profis kamen mit dem Missempfinden zur Nationalmannschaft, das Champions-League-Finale verpasst und das DFB-Pokalfinale verloren zu haben. Manuel Neuer und Jerome Boateng sind nach ihren Verletzungen erst kurz vor der WM wieder genesen. Jonas Hector ist mit dem 1. FC Köln abgestiegen. Timo Werner verspielte mit den Rasenballsportlern aus Leipzig in der Rückrunde die Champions League – auch, weil seine Tore fehlten. Mesut Özil und Ilkay Gündogan...ach, Sie wissen schon.
Reus will unbeschwert gestalten
Reus verlor kein Finale, verpasste (schuldhaft) kein Saisonziel, stieg nicht ab, ließ keine Fotos von sich mit fragwürdigen Staatspräsidenten machen. Unter den potenziellen Stammspielern gehört er damit zu einer seltenen Spezies. Zu jenen, die keinen Ballast aus der Saison mitbringen, die nicht mit sich selbst beschäftigt scheinen, sondern die Lust auf die Aufgabe versprühen und unbeschwert gestalten wollen.
Selbst die obligatorische schwere Verletzung, die ihn schon zwei Turniere kostete, gereicht ihm dieses Mal fast zum Vorteil. Einen Kreuzbandteilriss zog er sich vor etwas mehr als einem Jahr zu. Im Februar erst kehrte er zurück ins BVB-Team. Der Offensivspieler hat damit nicht die Strapazen einer langen Saison in den Knochen, wie viele seiner Kollegen. „Ich hatte eine gute Vorbereitung nach der Verletzung“, sagt er. Langsam wurde er herangeführt, überstürzte bloß nichts. Er habe dann „viel gespielt“ und „meinen Rhythmus gefunden“, sei bei der Nationalmannschaft aufgebaut worden, um „immer bei 100 Prozent“ zu sein.
Das peinliche Aus der Dortmunder in der Europa League gegen den FC Salzburg erlebte er zwar auf dem Rasen mit, aber da war er gerade erst in den Spielbetrieb zurück gekehrt. Sieben Tore gelangen ihm in den verbleibenden elf Bundesligaspielen. Er ist das, was Bundestrainer Joachim Löw suchen dürfte für die Partie gegen Schweden. Anstelle von Draxler links? Anstelle von Özil mittig? Anstelle von Werner ganz vorn? Oder doch anstelle von Müller rechts? „Wo ist mir egal. Dort, wo der Bundestrainer meint, dass ich der Mannschaft am besten helfen kann“, sagt Reus mit der gebotenen Ergebenheit.
Reus wirkte fast ein wenig abwesend
Thomas Müller hat im übrigen am Mittwoch ebenfalls ein neues Wort erfunden. „Leichtigkeit kann man nicht trainieren“, erklärte der 28-Jährige. „Leichtigkeit ist die Beschreibung der Dinge, die geklappt haben.“ Wenn er also während des Spiels luge und laufe und lauere auf den einen überraschenden Moment, der Ball aber dann nicht den Weg zu ihm fände, dann...dann wirke das „eben nicht so leichtigkeitig“, sagte er und freute sich über seinen Wortwitz, auch wenn er das vielleicht ein wenig verkruxt finden mag. Reus saß daneben und wirkte fast ein wenig abwesend. Er denkt derzeit nicht so sehr über das Leichtsein nach. Vielleicht, weil er es gerade einfach ist.