Eugene. Vollkommen harmonisch geht es beim WM-Dreifachtriumph der jamaikanischen 100 Meter-Sprinterinnen in Eugene/Oregon nicht zu.

Es war Shelly-Ann Fraser-Pryce fast egal, wo das 100-Meter-Finale der Weltmeisterschaften stattfinden würde. New York, Rio, Tokio? Die 35-Jährige wusste, dass sie in jeder Stadt, in jedem Stadion nach einer Medaille greifen würde: „Wenn du es in den jamaikanischen Meisterschaften geschafft hast, bist du bereit für alles.“

Es war ein Satz, den die Ausnahmesprinterin vor wenigen Tagen gesprochen hatte – und der sich nun am dritten Wettkampftag der WM bewahrheitete. Nicht in New York, Rio oder Tokio, sondern im überschaubaren Eugene an Amerikas Westküste. Doch im Bundesstaat Oregon geschah, was wohl auch in den anderen Metropolen geschehen wäre: Wenige Minuten nach dem Ende des 100-Meter-Finals der Frauen trugen drei Jamaikanerinnen die Flagge ihres Landes um die Schultern, als sie auf die Ehrenrunde gingen. Um ihren Hals baumelten Medaillen, kurz darauf wurde die jamaikanische Nationalhymne gespielt. Gold, Silber und Bronze gingen an die Sprinternation. Wie schon bei den Olympischen Spielen 2008 und 2021. Ja, sie waren wirklich für alles bereit.

Jamaika hat die Qual der Wahl

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Gold gewann Shelly-Ann Fraser-Pryce, Silber Shericka Jackson und Bronze Elaine Thompson-Herah. Damit war nicht die Frage beantwortet, wer am Ende auf dem Treppchen stehen würde. Die stellte sich ohnehin nie. Sondern nur die nach der Reihenfolge, in der die Jamaikanerinnen durchs Ziel schießen würden. 24 Stunden zuvor hatten die Männer der USA mit einem Dreifach-Erfolg ein Zeichen der Dominanz gesetzt hatten, nun taten es ihnen die Frauen aus dem karibischen Inselstaat nach. „Wir haben so hart für diesen Dreifach-Triumph gearbeitet. Ich bin so glücklich, dass es geschafft ist“, sagte Shelly-Ann Fraser-Pryce.

Weltmeisterin: Shelly-Ann Fraser-Pryce.
Weltmeisterin: Shelly-Ann Fraser-Pryce. © dpa | Unbekannt

Andere Länder wären glücklich, wenn sie überhaupt eine Topsprinterin zu den Weltmeisterschaften schicken könnten. Jamaika hat die Qual der Wahl und lässt gleich mehrere Topathleten in den Landesmeisterschaften aufeinanderprallen, um für die großen Wettbewerbe die Besten auszusieben. Häufig hat Shelly-Ann Fraser-Pryce dieses Prozedere mitgemacht und sich so die nötige Härte geholt, um zunächst zum Sprint-Star ihres Landes aufzusteigen und dann die Tartanbahnen dieser Welt zu erobern. Zweimal gewann sie Einzel-Gold bei Olympia (2008 und 2012) und nun zum fünften Mal die bedeutendste Sprintdistanz bei der Weltmeisterschaft. Stets mit einer anderen Haarfarbe, aber immer mit dem gleichen Ehrgeiz. Den braucht es, um unter den Besten der Welt zu bestehen. Um sich so lange auch gegen die eigenen Landsfrauen zu behaupten.

Eine kühle Siegesfeier

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Denn die sind genauso ehrgeizig wie jene Erfolgsmaschine, die sie wegen ihrer Körpergröße von 1,52 Metern „Pocket Rocket“ nennen. Taschen-Rakete. Als „Mommy Rocket“ (Mama-Rakete) bezeichnet sich Shelly-Ann Fraser-Pryce seit der Geburt ihres mittlerweile fünfjährigen Sohnes Zyon selbst. Eine Mama, die nun insgesamt zehn WM-Titel in ihrer Vita stehen hat. Auf mehr kommen nur die US-Amerikanerin Allyson Felix (13) und ihr jamaikanischer Landsmann Usain Bolt (11).

So lässt sich auch die zunächst kühle Siegesfeier erklären. Shelly-Ann Fraser-Pryce reckte die Faust in die Luft, als sie nach 10,67 Sekunden die Ziellinie überschritt. WM-Rekord. Shericka Jackson (10,73) und Elaine Thompson-Herah (10,82) folgten. Es gab eine kurze Gratulation, Fraser-Pryce feierte zunächst allein. Immerhin, nach ein paar Minuten folgten ein gemeinsames Foto, kurze Wortwechsel und die gemeinsame Ehrenrunde.

Gina Lückenkemper hofft nun auf Staffelerfolg

Denn vor allem Elaine Thompson-Herah hatte sich mehr erhofft. Bei den beiden jüngsten Olympia-Ausgaben hatte die 30-Jährige jeweils Gold über die 100 und die 200 Meter gewonnen. Vor knapp einem Jahr wurde sie auf der jetzigen WM-Bahn beim Diamond League Meeting in Eugene mit 10,54 Sekunden gemessen - die zweitschnellste jemals von einer Frau gelaufene Zeit. Nur Florence Griffith-Joyner aus den USA war 1988 bei ihrem Weltrekord in 10,49 Sekunden schneller. Und nun: Platz drei. Für eine Frau mit ihrem Potenzial eine Enttäuschung. Zumal sich Shericka Jackson Silber sicherte. Die Spätberufene, die erst im vergangenen Jahr ihre erstes 100-Meter-Rennen auf internationalem Niveau bestritten hatte und in Tokio gleich Olympia-Bronze holte. Zuvor war die 28-Jährige die 400 Meter spezialisiert.

10,67 Sekunden, 10,73 und 10,82 – es sind Zeiten, bei denen auch Gina Lückenkemper nur anerkennend nicken konnte. Als das Finale begann, war die 100-Meter-Mission der zurzeit besten deutschen Sprinterin seit mehr als zwei Stunden beendet. Die 25-Jährige lief im Halbfinale 11,08 Sekunden, wurde Vierte ihres Laufs. Für ein Ticket zum Duell der Top Acht reichte das nicht. „11,08 Sekunden war definitiv nicht das, was ich mir vorgenommen hatte. Ich wollte mehr“, sagte die Soesterin. „Nichtsdestotrotz sind 11,08 Sekunden eine gute Leistung und ich bin Dreizehnte der WM geworden.“

Sicher, die Zeit war nach dem 10,99-Lauf bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin vor zwei Wochen ein kleiner Dämpfer. Im WM-Vorlauf war sie am Samstag nach schwachen Start 11,09 Sekunden gelaufen. Doch immerhin: So konstant wie in den vergangenen Wochen hatte sich Lückenkemper seit Jahren nicht mehr präsentiert. „Es geht aufwärts“, sagte sie. Die Konzentration gilt nun der 100-Meter-Staffel, mit der sie in der Nacht auf Samstag den Vorlauf bestreitet. „Ich glaube schon, dass wir ein ordentliches Team auf der Bahn stehen haben werden“, sagte Lückenkemper selbstbewusst. „Wir können ordentlich was auf das Parkett zaubern.“ Shelly-Ann Fraser-Pryce sprach übrigens nicht über den Staffelstart mit Jamaika. Musste sie auch nicht. Beim Blick aufs Treppchen erübrigte sich ohnehin jede Frage nach der Favoritenrolle.