London. Alles schon erlebt als Reporter? Vor genau 25 Jahren stieg der Begriff Dramatik auf ein neues Level. England gegen Deutschland - eine Kolumne.
Die Schwatte hat mich damals gerettet. Ihren Spitznamen hatte sie ihren einst pechschwarzen Haaren zu verdanken, und sie behielt ihn noch, als sie längst die Kupferbraune hätte genannt werden müssen. Eine ihrer Stärken war das Zehnfingerschreibsystem, mit dem sie Wettbewerbe hätte gewinnen können. Die Schwatte, unsere Sekretärin, war die gute Seele der Sportredaktion.
Man kann nicht behaupten, dass jene Europameisterschaft im Jahr 1996, als der Fußball nach Hause kam, für uns Reporter das pure Vergnügen war. In zwei Pubs in der Nähe von Manchester mussten wir abends das Feierabendbier stehen lassen und flott verschwinden, weil uns die englischen Stammgäste Prügel angedroht hatten. Begründung: „You are fucking Germans!“ Widerstand zwecklos – sonst hätte man auch Mike Tyson ein Weichei nennen können.
Die Boulevardblätter hetzten das englische Fußballvolk auf
Angefeuert wurde das englische Fußballvolk von den Boulevardblättern, im Vergleich zu denen die Bild-Zeitung damals wie die Bäckerblume daherkam. Plötzlich war wieder Weltkrieg. Weil das Spiel der Spiele bevorstand. England gegen Deutschland, der Klassiker. In London, in Wembley, wie auch am kommenden Dienstag wieder. Ich dachte seinerzeit, in Fußballstadien schon einiges an Dramatik erlebt zu haben. Doch dann kam der 26. Juni 1996, dann kam dieses Europameisterschafts-Halbfinale vor genau 25 Jahren.
Schon das Stadion konnte ja keinen Fußball-Liebhaber kalt lassen. Im alten Wembley hast du Fußball nicht nur gesehen, du hast ihn auch gefühlt. „You’ll never walk alone“ aus 70.000 Kehlen, schaurig schön. Spieler der Gastmannschaft konnten da schon mal ins Bibbern geraten. Und so lagen die Deutschen schon nach drei Minuten 0:1 zurück, Alan Shearer traf per Kopf. Doch sie wehrten sich, in Minute 16 grätschte Stefan Kuntz den Ball über die Linie. Alles wieder offen.
Elfmeterschießen - Live-Berichterstattung für ein Printmedium
Ein Spiel mit massenhaft Chancen auf beiden Seiten, Ausgang völlig ungewiss. Für den Reporter, der seinen Text mit Schlusspfiff in die Heimat übertragen musste, eine Qual. Analyse? Unmöglich. Es kam zur Verlängerung, es begann die Jagd nach dem Golden Goal, das schlagartig die Partie beendet hätte. Beide Teams suchten die Entscheidung. Sie fanden sie erst im Elfmeterschießen.
Der Text, der bis dahin geschrieben war: in großen Teilen ein Fall für die Löschtaste. Zudem wackelte die Datenübertragung in die Heimat. Also ans Telefon. Live-Berichterstattung für ein Printmedium. Die Schwatte ließ die Finger über die Tasten fliegen, für den Andruck zählte jede Sekunde. Fünf Engländer trafen. Fünf Deutsche auch. Noch immer fehlte dem Spielbericht eine Tendenz. Jetzt: Mann gegen Mann, nicht auszuhalten.
Southgate scheitert, Möller trifft – und Häßler philosophiert
Gareth Southgate, heute Englands Nationaltrainer, scheiterte an Andi Köpke. Und Andi Möller versenkte die Kugel mit einer Kälte, als hätte er im Kühlhaus übernachtet. Danach präsentierte er sich den Fans in Napoleon-Pose. „In was für einer Pose?“, rief die Schwatte laut. „Ich verstehe dich nicht.“NA-PO-LE-ON! „Sag das doch gleich“, scherzte sie, dann folgte das erlösende „fertig, passt“.
Unweigerlich sackte man auf seinem Reporterplatz zusammen. Dann runter in die Interview-Zone. Interessant, dass einem ausgerechnet Thomas Häßlers Zusammenfassung des emotionsgeladenen Abends in Erinnerung blieb. „Ich glaub’, das Spiel war ganz gut gewesen“, hat er gesagt.