Dortmund. Laufblogger Stefan Reinke hat eine talentierte Sprinterin zum Duell gefordert. Am Ende gab es etwas Drama und das schnelle Ende einer kurzen Karriere.
Ich wollte schon immer wissen, wie sich Sprint anfühlt. Ich wollte verstehen, warum ich Sprinter, wenn ich sie im Sommer schon mal beim Training beobachte, eigentlich nie sprinten sehe. Irgendwie machen die ständig Pause. „Mein Puls muss immer unten bleiben“, sagt Laura Siegeroth, mit der ich mich zu einem Duell in der Dortmunder Helmut-Körnig-Halle verabredet habe. Und Uli Kunst, ihr Trainer bei der LG Olympia Dortmund (LGO), erklärt, dass Sprinter sich außerhalb des Rennens nicht auspowern dürfen, weil sie mit ihren Ressourcen haushalten müssen. Sprint ist also zunächst einmal gar nicht schnell, sondern sehr gemütlich und langsam.
Für einen Hobby-Langstreckler wie mich ist das völlig unbekanntes Terrain. Für Langstreckenläufer ist ein Rennen über fünf Kilometer so etwas wie Sprint, weil man diese Distanz laufen kann, ohne groß an Renneinteilung denken zu müssen. Aber auf 60, 100 oder 200 Metern alles raushauen, was in den Muskeln steckt? Unvorstellbar.
Horrorvision vor dem Rennen: eine Verletzung
Vor dem Sprintduell spukte mir regelmäßig eine Horrorvision durch den Kopf: Laura und ich sprinten in diesem – bei allem Ernst – Jux-Wettkampf über die Tartanbahn und plötzlich greift sie sich ans Bein. Keine Geschichte ist es wert, dass sich eine talentierte Nachwuchssportlerin dafür verletzt. Den gleichen Gedanken hatte wohl auch Uli Kunst. Als wir zu den Startblöcken schlendern, redet er uns ins Gewissen: „Wenn einer von euch etwas spürt, hört er sofort auf.“ Geradezu prophetisch.
Doch vor dem Sprint kommt das Aufwärmprogramm. Gemeinsam mit Laura trabe ich mich ein paar Runden in der Halle ein. Das Tempo ist gemütlich, wir können dabei plaudern. Sie sagt, dass sie sich nicht vorstellen könne, jemals einen Marathon zu laufen, ich staune, dass Warmlaufen für Laura bedeutet, dass nach gut 600 Metern Schluss ist. Da fange ich sonst erst an, warm zu werden. Anschließend machen wir ein paar Dehnübungen. Ganz kurz nur, mit leicht wippenden Bewegungen, alles ganz langsam.
Es folgen Koordinationsübungen, bei denen es für mich schon ans Eingemachte geht. Sprint ist Technik und Körperbeherrschung. Wer den Fuß falsch aufsetzt, riskiert Verletzungen. Darum machen wir seltsame Übungen, bei denen etwa ein Bein schnell im Storchengang rennt, während das andere steif hinterher humpelt. Sehr seltsam, aber Laura kann das. Ich nicht. Ihre Teamkollegen, die uns beobachten, quittieren meine Versuche mit Gelächter. Aber ich bin ja hier, um etwas am eigenen Leib zu erleben, von dem ich keine Ahnung habe. Da gehört es wohl dazu, dass ich mich ein bisschen lächerlich mache. Den Rückweg zum Startpunkt gehen wir jedes Mal ganz langsam. „Allmählich könnten wir auch mal rennen“, denke ich. Und tatsächlich ordnet Uli Kunst jetzt Steigerungsläufe an. Aus dem Stand sollen wir uns langsam unserer Höchstgeschwindigkeit nähern. Das klappt bei mir ganz gut.
Endlich: Wir ziehen die Spikes an – gleich geht’s los
Mit der Aufforderung, nun unsere Spikes anzuziehen, nähern wir uns endgültig der heißen Phase. Mit den Sprintschuhen an den Füßen, machen wir ein paar Starts – erst aus dem Stand, dann aus dem Startblock. Dabei wird so richtig deutlich, wie groß der Unterschied zwischen Laura und mir ist. Sie hat Dynamik und Eleganz, ich starte wie ein Kartoffelsack.
Schließlich sind alle Vorbereitungen abgeschlossen. Noch ein Schluck Wasser, dann spazieren wir zu den Startblöcken. 60 Meter liegen vor uns. Ich werde nervös. Uli spricht seine Warnung bezüglich Verletzungen aus. Ich sage zu Laura, dass ich es mir nie verzeihen werde, wenn ihr bei diesem Lauf etwas zustoßen sollte. Aber ich gehe davon aus, dass sie mit gebremstem Schaum laufen wird, da sie ohnehin gewinnen wird. Selbst im Storchengang wäre sie schneller als ich im Vollsprint.
Auf die Plätze, fertig – Faserriss
Ein Teamkollege von Laura stellt sich mit der Startklappe hinter uns. „Auf die Plätze“ - wir treten an die Startblöcke, knien uns hin und drücken die Spikes an die Blöcke, aus denen wir uns gleich auf die Strecke katapultieren sollen. „Fertig“ - heißt auf Deutsch: Hintern hoch, Blick nach vorne, gleich geht’s los: „Klack!“, schallt es von hinten, als der Starter mit der Klappe das Signal gibt. Mein linkes Bein stößt sich vom Block ab, da ist Laura schon deutlich vor mir. Ich konzentriere mich auf mein Rennen und auf die Technik: Die Knie hoch, kraftvoll mit den Armen arbeiten, mit den Augen das Ziel fokussieren.
Laura ist vorne, aber nicht so weit, wie ich befürchtet habe. 60 Meter sind ganz schön lang. Ich spüre, wie meine Kräfte schwinden, aber ich fühle mich schnell. Laura ist im Ziel, ich nähere mich. Plötzlich spüre ich, wie in meinem rechten Oberschenkel etwas reißt. Geräuschlos, wie ein dumpfer Schlag mit einem Boxhandschuh. Ich fasse mir ans Bein, ein Wort schießt durch den Kopf: „Muskelfaserriss!“ (eigentlich waren es zwei Worte, aber eines davon ist nicht druckreif). Ich renn-humpele die fehlenden Meter ins Ziel.
Eis ins Hosenbein
Uli und Laura kommen sofort zu mir, sie haben gesehen, dass etwas passiert ist. Auch die Trainingskollegen haben es gesehen und sofort richtig interpretiert. Sportler kennen das, vermutlich hatten sie alle schon mal einen Faserriss, wenn nicht noch viel Schlimmeres – für mich ist es die erste echte Sportverletzung. Ich bin noch voller Adrenalin und merke den Schmerz gar nicht richtig. Laura holt Eis, das ich in mein Hosenbein stopfe. Ich fühle nicht einmal Enttäuschung darüber, dass ich nicht bis ins Ziel durchsprinten konnte. Ich nehme es hin.
Wir machen noch ein Interview und Fotos, während in meiner Hose das Eis schmilzt und Wasser als kühles Rinnsal an meinem Bein hinunter läuft. Erst jetzt wird mir das eigentliche Ausmaß klar: Der Paris-Marathon 2015 findet ohne mich statt. Ich bin nicht einmal wirklich deprimiert. Ich glaube, mein Körper hat sich eine Gelegenheit herbeigesehnt, um mir mitzuteilen, dass er momentan nicht will und ihn an Paris einzig der Eiffelturm interessiert.. Ich habe verstanden. Mindestens vier Wochen Pause, dann ganz langsam wieder mit dem Sport beginnen. Vielleicht storniere ich die Reise ganz, vielleicht fahre ich als Tourist (und nehme – einfach so – meinen Turnbeutel mit).
Leistungssportler nötigen Respekt ab
Der Muskelfaserriss gehört wohl zum Erfahrungspaket „Wie fühlt sich Sprint an?“ dazu. Leistungssportler leben ständig mit Verletzungen. Es kann jederzeit passieren. Auch dafür haben Leistungssportler Respekt verdient. Wer sich irgendwann im Fernsehen ein 100-Meter-Finale mit den acht schnellsten Menschen der Welt im Fernsehen anschaut und verächtlich „alle gedopt“ grummelt, der denke bitte an Sportler, die in seiner Nachbarschaft trainieren und vielleicht niemals in einem großen Finale stehen werden. Oder an Athletinnen und Athleten wie Laura, Kathi Grompe, Erline Nolte, Pablo Nolte und Bennet Buchmüller, mit denen ich schon spannende Gespräche führen konnte und die wirklich das Zeug dazu haben, etwas in ihrem Sport zu erreichen, und dafür große Opfer bringen. Leichtathleten kommen oft sehr sympathisch rüber. Ich glaube, das liegt daran, dass Stinkstiefel gar nicht in der Lage dazu wären, mit der gleichen Lockerheit und Gelassenheit Schule, Familie, Freunde und Leistungssport unter einen Hut zu bringen. Allein schon, dass sie beharrlich ihren Weg gehen, nötigt mir großen Respekt ab.
Ich habe viel gelernt. Ich habe Bewegungsabläufe kennengelernt, die ich vermutlich nie wieder machen werde. Ich weiß jetzt, warum ich Sprinter so selten sprinten sehe. Ich bin aus dem Startblock gestartet, bin mein Rennen gelaufen. Und ich weiß, wie schnell es passieren kann, dass eine blöde Verletzung einen Sportler aus der Bahn wirft. Trotz Verletzung hat sich der Selbstversuch gelohnt: Ich verstehe vieles besser.