Herzogenaurach. In Herzogenaurach sprachen Experten über die schwierige Katar-Frage vor der WM - unter den Zuhörern: alle Spieler des Nationalteams.
Irgendwann wird es Martin Endemann zu viel: „Die Lage in Katar hat sich nicht verbessert“, schimpft er. „Es gibt keine Gewerkschaften, es gibt keine Redefreiheit, gibt keine Pressefreiheit.“ Und der jüngste Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zeige, dass es auch beim Thema Frauenrechte nicht vorwärts gehe im Gastgeberland der kommenden Weltmeisterschaft.
Endemann ist Sprecher der „Football Supporters Europe“, der größten europäischen Vereinigung von Fußballfans. Und an diesem Mittwochmittag sitzt er im Firmensitz von Adidas in Herzogenaurach, um über die Menschenrechtslage in Katar zu diskutieren – und insbesondere über die Situation für Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierung und Identität. Der deutsche Fußballbund hat Interessenvertreter und Katar-Experten eingeladen, es ist ein Teil der Bemühungen, die Nationalspieler vorzubereiten auf all die Diskussionen rund um das Emirat, die schon laufen und noch an Schärfe zunehmen dürften, je näher das Turnier rückt.
DFB-Direktor Bierhoff: "Es gibt nicht diese eine Wahrheit"
Und deswegen sitzen die 25 Nationalspieler, die sich in diesen Tagen auf das Nations-League-Spiel am Samstag (20.45 Uhr/RTL) in Bologna gegen Italien vorbereiten, nun in den ersten drei Reihen des Raums „Halftime“, hören aufmerksam zu – und nehmen wieder einmal die Erkenntnis mit: Es ist alles nicht so einfach mit dem Thema Katar. Oder wie es Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff am Ende zusammenfasst: „Es gibt nicht diese eine Wahrheit.“ An diesem Tag auf diesem Podium gibt es mindestens zwei Wahrheiten, zwei sehr konträre noch dazu – wie soll man damit umgehen als Fußballer?
„Ich würde an die Spieler appellieren: Sprecht nur über die Dinge, über die ihr Bescheid wisst“, sagt der aus Boston zugeschaltete Thomas Hitzlsperger, DFB-Botschafter für Diversität. „Es ist auch auch legitim, zu sagen: Das weiß ich nicht, darüber bin ich nicht genug informiert, dazu kann ich nichts sagen.“ Aber Schweigen ist keine wirkliche Option in Zeiten, in denen die Spieler ständig vor Journalisten und TV-Kameras stehen. Je näher die WM rückt, desto häufiger werden auch die Fragen nach dem umstrittenen Gastgeberland kommen.
Und deshalb bemüht sich der DFB, seine Spieler mit Informationen zu versorgen. Im März sprachen Vertreter von Menschenrechtsorganisation im Teamhotel in Frankfurt über die schwierige Situation der Gastarbeiter, diesmal ist sexuelle Vielfalt ein Schwerpunkt. Erst einmal aber kommen Menschen zu Wort, die längere Zeit in Katar gelebt haben oder sich dort oft beruflich aufhalten. Menschen, die aktuell in Katar Geld verdienen oder einst sogar auf der Gehaltsliste der Regierung standen wie der heutige Fifa-Sicherheitsdirektor Helmut Spahn – und daher wenig überraschend ziemlich gut finden, was in Katar passiert. Die Fortschritte im Land stimmten den Weltverband positiv, sagt Spahn: „Es ist nicht alles Gold was glänzt, aber die Entwicklung war enorm.“ Und der Sportmarketing-Experte Roland Bischof meint: „Es gibt einen Umbruch, es gibt Reformer, die es ernst meinen und die ehrliche Reformen vorantreiben.“
Das ist die eine Wahrheit, die von Befürwortern gerne bemüht wird: Dass es vorangeht mit der gesellschaftlichen Entwicklung im Land, dass die Menschenrechtslage viel besser ist als in den Nachbarstaaten, gerade auch dank der anstehenden Fußball-WM, und dass Katar ohnehin eines der sichersten Länder der Welt ist.
ARD-Journalist Sohmer: "Katar ist ein totaler Überwachungsstaat"
Und dann gibt es die andere Wahrheit, die neben Endemann auch der ARD-Journalist Philipp Sohmer vertritt: „Katar mag das sicherste Land der Welt sein, aber das hat einen Preis“, sagt er: „Katar ist ein totaler Überwachungsstaat. Wenn sie möchten, wissen sie immer, wo du bist. Und ich habe das Gefühl, sie möchten sehr oft.“
Ohnehin ist es mit der Sicherheit so eine Sache, wenn man nicht ins gewünschte Raster passt. Homosexualität etwa kann mit Gefängnis oder sogar mit der Todesstrafe geahndet werden, da helfen auch die Beteuerungen der katarischen Regierung nicht, dass jeder willkommen sei. „Händchen halten, wie man das im Urlaub macht – wenn das schon unter Strafe steht, habe ich definitiv kein Sicherheitsgefühl“, sagt Christian Rudolph, der Leiter der DFB-Anlaufstelle für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. „Hier werden elementare Menschenrechte nicht umgesetzt“, ergänzt Pia Mann von „Discover Football“, einem Netzwerk, dass sich gegen die Diskriminierung von Frauen einsetzt – dabei hat die Fifa sich doch selbst eigentlich Menschrechtsstatuten aufgelegt.
Kann die Weltmeisterschaft die Lage verbessern? „Ich warte bis heute, dass man mir ein Land nennt, in dem die Menschenrechtslage durch ein Großereignis wesentlich besser wurde“, meint Endemann und nennt das Beispiel Russland, wo sich die Lage seit der WM 2018 deutlich verschlechterte. Wer eine Fußball-Weltmeisterschaft in autokratische Staaten gebe, helfe nur denen. „Wir alle haben geholfen, Russland zu normalisieren und wir helfen jetzt, Katar zu normalisieren.“
Was also bleibt, was können die Nationalspieler ausrichten? Einiges, sagt Pia Mann, und das müsse nicht immer die große Rede im TV-Interview sein. „Ich würde mir wünschen“, sagt sie dann, direkt an die Nationalspieler gerichtet, „dass ihr wieder mit Regenbogenbinde aufläuft. Das sind zwar nur symbolische Zeichen, aber die machen viel aus.“