Tokio. Er war der Topfavorit und Deutschlands Goldhoffnung. Doch Speerwerfer Johannes Vetter fand keinen Halt auf dem Boden. Sein Scheitern.
Es war nicht die Disziplin, in der Johannes Vetter brillieren wollte. Es war auch keine Disziplin, in der am vorletzten Tag der Olympischen Spiele von Tokio noch ein Medaillensatz vergeben wurde. Im Gegenteil, es ist die wohl unbeliebteste aller Disziplinen unter Spitzensportlern: Johannes Vetter musste sein Scheitern erklären.
Er machte das gut. So gut man das eben machen kann. Verärgert, aber gefasst und geduldig versuchte der 28 Jahre alte Speerwerfer aus Offenburg zu erklären, warum er gerade nicht Olympiasieger geworden war. Er, der in diesem Jahr jeden Wettbewerb gewonnen und sein Sportgerät in Dauerschleife auf Weiten jenseits der 90 Meter gefeuert hatte.
Vetter gibt den Bodenbelag in Tokio die Schuld
Schuld war der Belag. Dieser neue Wunderboden der Firma Mondo, extra entwickelt für Olympia 2020 in Tokio, der die Läufer mit seinem dezenten Trampolineffekt reihenweise zu Rekorden hat laufen lassen. Für Werfer jedoch, „die ein bisschen härter reinstemmen“, sei der Boden ein Graus, sagte Vetter am Samstagabend. „Schade, enttäuschend, bitter“, sei das. „Der Beleg ist halt gut für olympische Rekorde und Weltrekorde auf dem Track, aber für einen Speerwerfer wie mich, der ein bisschen härter über die Ferse stemmt, für den ist er tödlich.“
Es hatte sich schon in der Qualifikation angedeutet, dass der Weltmeister von London 2017 und WM-Dritte von Doha 2019 nicht warm wurde mit der Speerwurf-Anlage in Tokio. Er brauchte drei Versuche, um überhaupt ins Finale zu kommen und teilte anschließen mit, dass ihm sein Timing und sein Rhythmus verloren gegangen seien. Er wollte daran arbeiten, mit seinem Trainer Boris Obergföll und mit dem Sportpsychologen Hans-Dieter Hermann. Das tat er auch. Er habe gekämpft, sagte er. Aber es half nichts.
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Julian Weber verpasst überraschend knapp eine Medaille
Am vorletzten Abend der verspäteten Spiele 2020 wurde der Inder Neeraj Chopra mit 87,58 Metern Olympiasieger im Speerwerfen. Die Tschechen Jakub Vadlejch (86,67) und Vitezslav Vesely (85,44) holten Silber und Bronze, der Mainzer Julian Weber (85,30) verpasste als Vierter überraschend knapp eine Medaille. Und Johannes Vetter, der 90-Meter-Dauerwerfer, konnte nichts dagegen tun. Sein Wettbewerb geriet zur Rutschpartie. Er fand keinen Halt mit seinem Stemmfuß.
Im ersten Durchgang trudelt sein Speer auf magere 82,52 Meter. Auch im zweiten missglückte der Abwurf. Vetter legte eine spektakuläre Seitwärts-Vorwärts-Rolle ins Aus hin, bei der sich viele andere wohl alle Knochen gebrochen hätten. Im dritten Durchgang ging dann nichts mehr. „Unbewusst drückt man vielleicht auf die Bremse, wenn man merkt, dass es gefährlich wird“, sagte er später. Er wurde Neunter.
Vetters Würfe enden mit einer Bauchlandung
Wer weit werfen will, braucht viel Kraft. Johannes Vetter hat viel Kraft. Seine massiven Schultern und Oberarme zeugen davon. Auf seinem Instagram-Kanal hält Vetter seine Fans unter dem Hashtag #VetterWurf auf dem Laufenden. Da verdient er Geld mit Werbung, das gehört dazu heute bei einem Top-Athleten. Aber er zeigt sich auch gern mal bei der Arbeit an der Hantelstange. Die Scheiben, die er auflegt, sind nichts für schwache Nerven. Und bringen auch ihn schon mal aus dem Gleichgewicht. Aber Fallen kann er ja. Das zeigt er bei jedem seiner Würfe, wenn er, nachdem der Speer einmal abgefeuert ist, eine Bauchlandung hinlegt. Das ist wie eine Art Rückstoß bei ihm. Je mehr Wucht er hinter den Speer bringt, desto krachender landet er anschließend auf dem Boden.
Wer weit werfen will, braucht aber natürlich nicht nur Kraft. Der Speerwurf ist eine sehr diffizile Kunst. Es braucht auch schnelle Beine und eine ausgefeilte Technik. Die Anlaufgeschwindigkeit muss über den Stemmfuß auf Oberkörper, Arm und Speer übertragen werden. Einfach gesagt. Wer Thomas Röhler aus Jena dazu befragt, den Olympiasieger von 2016, der in Tokio verletzungsbedingt fehlte, muss viel Zeit mitbringen. Röhler ist ein Tüftler und redet gern über die kleinsten Finessen seines Metiers. Vetter ist mehr ein Macher. „Ich laufe da hinten an und haue drauf“, so beschrieb der Offenburger kurz vor den Spielen noch das, was er tut. Wenn es gut läuft, lässt er dabei eine „Bombe platzen“.
Vetter: Zum Glück nur drei Jahre bis zu den nächsten Spielen
Wenn es schlecht läuft, rutscht er weg. Dann wirbelt ihn all sein Kraft mächtig durcheinander, anstatt in den Speer zu gehen. Julian Weber hat der Boden nicht gestört. Der 26-Jährige hat im Finale Saisonbestleistung geworfen. „Aber ich bin auch nicht so das große Block-Stemm-Monster wie der Jojo“, erklärte er anschließend fast entschuldigend: „Jojo ist mega gerutscht, der Belag hält seiner Power nicht stand, da leidet man schon mit.“
Vetter litt auch. Er stellte sich tapfer seinem Scheitern. Aber dies musste er auf die Frage, warum es denn bei den anderen geklappt habe, noch loswerden: „Die stemmen halt nicht so krass über die Ferse, sondern eher von oben drauf. Die sind halt limitiert in ihren Weiten. Die haben Vollgas gegeben und zwischen 85 und 87,5 Metern geworfen. Das ist für mich eigentlich keine Weite.“ Eigentlich. Bevor er ging, um seine Wunden zu lecken, sagte Vetter noch: „Ich muss ja jetzt zum Glück nur noch drei Jahre auf die nächsten Olympischen Spiele warten.“