Santo André/Rio de Janeiro.. Deutschland hat in der WM-Geschichte viele große Torhüter hervorgebracht. 2002 wurde Oliver Kahn sogar zum besten Keeper des Turniers gewählt, doch patzte ausgerechnet im WM-Finale. Auch Manuel Neuer hat großen Anteil am Finaleinzug der Löw-Elf 2014. Mit seinem modernen Stil ist er allen voraus.
Irgendwann, als Manuel Neuer noch ein Torwart war und noch nicht ein Außerirdischer wie heute, wurde er gefragt, was ihn von Oliver Kahn unterscheide. Kahn hatte damals den Fußballplaneten schon verlassen, doch sein Geist schwebte beständig weiter im Torhüterstaat Deutschland herum. Neuer durfte nichts sagen. Es war ein Interview, das nur aus Fragen und Fotos bestand, die Antworten wurden in Bildern dargestellt. Er sollte sich mit einer Geste zu Kahn ins Verhältnis setzen. Neuer nahm den Zeigefinger und den Daumen, spreizte sie fünf Zentimeter auseinander und hielt sie sich über seinen Kopf. Die Größe. Der Unterschied.
Eine neue Form des Torwartspiels
Jenes Foto aus dem Jahr 2011 erzählt eine Menge über Neuer. Dass er Sinn für Humor hat zum Beispiel. Aber es illustriert auch den Umstand, dass Neuer lange an die ultimative Vergleichsgröße Oliver Kahn herangehalten wurde – als sein Nachfolger, der sich gefälligst an ihm messen lassen muss.
Das lag auf der Hand: Neuer war gerade von Schalke 04 zum FC Bayern gewechselt und stand vor seinem zweiten Turnier als Nummer eins in der Nationalelf – zwei Tore, die Jahre lang Kahns Revier waren. Aber dieser Vergleich war gleichermaßen abwegig, weil alles, was Neuer tat, nicht zu Kahn passen wollte. Neuer erhob sich schnell zum besten Torwart weltweit und wurde damit selbst eine Vergleichsgröße. Nach Kahn fragte ihn bald niemand mehr.
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Bei dieser Weltmeisterschaft in Brasilien aber ist der Titan noch einmal gegenwärtig, wenn über Manuel Neuer gesprochen wird. Allerdings haben sich die Größenverhältnisse verschoben. Das Turnier hat sich zu einer WM der spektakulären Torhüter entwickelt: Der Mexikaner Guillermo Ochoa schien tausend Arme zu haben, der US-Amerikaner Tim Howard plötzlich auf seine alten Tage noch einmal seine Weltklasse entdeckt zu haben und der niederländische Reservekeeper Tim Krul ausschließlich für Elfmeterschießen auf diese Erde gekommen zu sein. Manuel Neuer aber überstrahlt all diese unverhofften Helden.
"Manu ist ein Geschenk für uns alle"
Eine WM ist immer auch eine Weltmesse des Fußballs, und Neuer hat darin eine neue Form des Torwartspiels ausgestellt. Im Achtelfinale gegen Algerien trat das am stärksten hervor, als der 28-Jährige wie ein elfter Feldspieler über den Rasen hetzte, Gegenangriffe mit Grätschen und Kopfbällen unterband und danach als moderner Libero in Torwarthandschuhen gefeiert wurde.
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„Manu ist ein Geschenk für uns alle“, schwärmte Bastian Schweinsteiger. „Herausragend im Mitspielen“, sei Neuer, sagte der Bundestrainer Joachim Löw, und sein Torwarttrainer Andreas Köpke verglich Neuer gar mit Franz Beckenbauer. Nur einer maulte, Oliver Kahn: „Was Neuer spielt, ist Harakiri“, schimpfte der TV-Experte, aber das nahm niemand ernst.
Zu Neuers beckenbaueresker Spielintelligenz gesellten sich bei dieser WM nämlich auch ein paar unwirklich erscheinende Paraden wie im Viertelfinale gegen Frankreich und zuletzt in der zweiten Hälfte des Halbfinals, als die Brasilianer noch einmal aufmuckten. Dass er der modernste Schlussmann auf dieser Weltmesse ist, beweist der Umstand, dass er in 570 Minuten für einen Torwart unglaubliche 31,5 Kilometer gelaufen ist und 81 Prozent seiner 249 Pässe an den eigenen Mann brachte. Dass er darüber hinaus auch unumstritten der Beste im Kerngeschäft seiner Zunft ist, belegt die Maßeinheit „abgewehrte Torschüsse“: 86,2 Prozent. Kein anderer Keeper kann da mithalten.
Kahn patzte 2002 im Endspiel
Nur ein einziges Mal zuvor wurde eine WM derart von einem Schlussmann dominiert wie diese von Neuer: 2002 in Japan und Südkorea von – genau – Oliver Kahn. Eigenhändig hatte Kahn eine limitierte Elf ins Finale geführt und wurde als erster Torwart überhaupt zum besten Spieler des Turniers gewählt. Aber die WM ließ Kahn auch als tragischen Helden zurück, weil der zuvor Fehlerlose im Endspiel gegen Brasilien patzte und die 0:2-Niederlage einleitete.
Dass Neuer nun Kahns Schicksal von 2002 ereilt, ist kaum vorstellbar. Bei einem Finalsieg sind es nicht mehr nur fünf Zentimeter, die ihn von Kahn unterscheiden. Es sind dann 36,8. So groß ist der goldene WM-Pokal.