Oslo. Magnus Carlsen verblüffte wieder einmal alle. Wochenlang bereitete sich der jüngste Schach-Weltmeister der Geschichte in den Alpen auf seine Titelverteidigung in Sotschi vor und ging dabei sogar bis auf 3000 Meter.
"Wie die Langläufer setze ich auf Höhentraining", sagte der Norweger vor seiner Abreise in die Olympia-Stadt zur Revanche gegen den Inder Viswanathan Anand. Am Samstag beginnt der Konzentrationsmarathon an der russischen Schwarzmeerküste. Das Duell ist für drei Wochen angesetzt.
"Irgendwie ist es ein bisschen surreal", sagte Carlsen auf die Frage eine NRK-Reporters, was er darüber denkt, schon wieder gegen Anand antreten zu müssen. Erst vor einem Jahr hatte er den Inder in einem langsamen und nervenaufreibenden Turnier entthront. Jetzt will es Anand, der "Tiger von Madras", noch einmal wissen.
Bei seiner Ankunft in Sotschi gab sich Carlsen gelassen. "Ich sehe mich als Favorit, wenn ich gut spiele", erklärte der Titelverteidiger." Aber es ist sinnlos, so zu spielen, wie ich es bei den letzten paar Turnieren getan haben. Dieses Turnier hat sein eigenes Leben." Und genau deshalb hat er das Höhentrainingslager in den Alpen gebraucht. Carlsen ist ein begeisterter Skifahrer, Fußballer und bewegt seinen muskulösen Körper einfach gern.
Vor dem Computer zu sitzen und Eröffnungsvarianten durchzuspielen, ist überhaupt nicht sein Ding. "Wenn man zu viel vor dem Rechner sitzt, wird man schnell depressiv und verliert seine Kreativität", lautet seine Erklärung. Dass der Weltmeister so wenig trainiert, verwundert auch seine Gegner. "Für mich ist das ein Mysterium, wie Magnus das macht", sagte der Weltranglistenzweite Fabiano Caruana in einer Dokumentation des norwegischen Fernsehens. Der Italiener schiebt selbst mehrere Stunden am Tag die Bauern, Springer und Türme übers Brett. Auch Schach-Legende Garri Kasparow, der Carlsen 2009 trainierte, wünschte, sein Zögling würde mehr üben. "Magnus kann viel besser sein", ist er sicher.
Carlsen kann solche Kommentare nur weglachen. "Man trainiert Schach, in dem man die ganze Zeit an Schach denkt", sagte er. "Und das mache ich." Er riskierte sogar, unhöflich rüberzukommen, als er einem Reporter gestand, dass er während des Interviews eigentlich die ganze Zeit an ein Spiel gegen Caruana gedacht habe.
Trotz des permanenten mentalen Trainings war das erste Jahr als Weltmeister für den jungen Mann aus Bærum bei Oslo kein reiner Erfolgslauf. Zwar wurde er im Juni auch noch Weltmeister im Blitzschach und im Schnellschach, bei der Schach-Olympiade im norwegischen Tromsø im August lief es aber nicht so gut. Nach 62 Zügen musste sich Carlsen dem Dortmunder Großmeister Arkadij Naiditsch geschlagen geben. Verstört verließ er den Raum, ohne mit der Presse zu sprechen. Ein paar Tage später verlor er gegen den Kroaten Ivan Saric. "Ich bin nicht sehr zufrieden mit meinem Einsatz", räumte Carlsen hinterher ein. "Es fing gut an, aber dann machte ich mehr Fehler, als ich gewohnt bin."
Auch der WM-Austragungsort Sotschi bereitete ihm einige Kopfschmerzen. Der Präsident des Weltverbandes FIDE, Kirsan Iljumschinow, ist ein Freund von Wladimir Putin und da sich der Kreml-Chef in der Ukraine-Krise nicht gerade von seiner freundlichsten Seite zeigt, passte Carlsen die Wahl Sotschis überhaupt nicht. Bis wenige Stunden vor Ablauf der Frist zögerte er, den Vertrag mit der FIDE zu unterzeichnen. Seine Bemühungen, den Kampf auszusetzen oder an einen anderen Ort zu verlegen, scheiterten. Am Ende stand er vor der Wahl, entweder nach Sotschi zu reisen oder seinen Titel zu verlieren.
Wenige Tage vor dem Start des Turniers arrangierte sich Carlsen mit der Sache. Sein Fans verstehen ihn, und die Norweger bejubeln ihn weiter als Helden. Das norwegische Fernsehen überträgt sämtliche Partien live und im Netz, auch wenn sie noch so lange dauern. Carlsen selbst ist der Rummel um seine Person eher unangenehm. Er will eigentlich nur das tun, was er ohnehin den ganzen Tag im Kopf macht: Schach spielen. Alles andere zählt nicht.