Tokio. Bei Olympia in Rio wurde Schwimmer Jacob Heidtmann (26) disqualifiziert. Fünf Jahre danach will er die Schmach im Wasser auswetzen

Wer sie vor Ort sah im Olympic Aquatics Stadium von Rio de Janeiro, der wird diese Szenen nie vergessen. Wie dieser junge Mann durch den Athletentunnel im Pressebereich läuft, das Gesicht nass nicht vom Wasser, sondern von Tränen. Wie er laut schluchzt, nicht links und nicht rechts schaut, auf Ansprachen nicht reagiert, sondern einfach nur fort möchte, allein sein mit sich und seinem Frust. Es sind Momente wie diese, in denen deutlich wird, wie groß Olympische Spiele sind. Und wie furchtbar Scheitern sein muss.

Fünf Jahre danach meldet sich Jacob Heidtmann aus Japan, die Verbindung über WhatsApp-Telefonie ist so gut, als säße man nebeneinander, und sagt auf die Frage, ob er das Gefühl habe, dass Olympia ihm noch etwas schulde: „Natürlich habe ich Rio noch im Kopf, und ich habe auch noch eine Rechnung offen. Ich will etwas geraderücken, aber ich habe keine negativen Gefühle deswegen. Ich habe es in der eigenen Hand.“

„Habe keinen Fehler gemacht“

Jacob Heidtmann, geboren in Pinneberg, gemeldet für den Verein Swim-Team Stadtwerke Elmshorn und dem Olympiastützpunkt Hamburg/Schleswig-Holstein zugeordnet, ist einer der besten Lagenschwimmer der Welt. 2016, bei seiner Olympiapremiere in Brasilien, durfte er das nicht zeigen. Nachdem er im Vorlauf über seine Paradestrecke 400 Meter Lagen die fünftbeste Zeit abgeliefert hatte, wurde er wegen zweier angeblich unerlaubter Delfinkicks bei der Wende von Brust auf Freistil disqualifiziert. „Ich bin bis heute davon überzeugt, dass ich keinen Fehler gemacht habe“, sagt er, „aber es ist ja nicht mehr zu ändern.“

Nein, das ist es nicht, und nachdem der 195 Zentimeter lange Topathlet drei, vier harte Monate mit sich über die Fortsetzung seiner Karriere gerungen hatte, entschied er im Dezember 2016 nach intensiven Gesprächen mit seinem damaligen Trainerteam, bestehend aus Petra Wolfram und dem aktuellen Hamburger Stützpunkttrainer Veith Sieber, die Schmach im Wasser auswetzen zu wollen. Und zwar mit allen Konsequenzen, ganz oder gar nicht. Im September 2019 schloss er sich deshalb in San Diego (US-Bundesstaat Kalifornien) der Elitetrainingsgruppe des US-Amerikaners David Marsh an.

Der Mann, der 2016 in Rio die erfolgreichen US-Frauen betreute und in Ryan Lochte (USA) einen der Superstars des Schwimmsports trainierte, verfolgt ein Credo, das sich auch Jacob Heidtmann zu Eigen gemacht hat: Dass man zu Rennen nicht antritt, um nur dabei zu sein, sondern dass man sie gewinnen will. „Diese Siegermentalität ist sehr wichtig“, sagt der 26-Jährige. In Deutschland werde zu sehr auf Qualifikationszeiten geschaut und außerdem zu sklavisch auf vorgegebene Umfänge Wert gelegt. „In Kalifornien habe ich gelernt, mehr auf mein Körpergefühl zu achten, alles etwas lockerer anzugehen und dennoch sehr intensiv zu arbeiten. Ich habe ein sehr gutes Gleichgewicht gefunden und so viel Spaß am Schwimmen wie noch nie!“

Inwiefern sich das nun in Tokio an Ergebnissen ablesen lassen wird, bleibt abzuwarten. Jacob Heidtmann sagt, er fühle sich besser als vor fünf Jahren in Rio. Allerdings ist seine Bestzeit über 400 Meter Lagen (4:12:08 Minuten) schon sechs Jahre alt. „Ich traue mir diese Region auf jeden Fall zu, wozu es dann reicht, wird man sehen“, sagt er. Auf seiner Paradestrecke startet er an diesem Samstag (12 Uhr/ZDF). „Ich finde das perfekt, dass die 400 Meter Lagen die erste Medaillenentscheidung der Spiele sind“, sagt er, „wenn es gut läuft, kann ich dem gesamten Team einen Push geben und die Erfolgswelle dann bis zum Ende durchsurfen.“ Seit 2008 warten die deutschen Beckenschwimmer auf eine Olympiamedaille. „Wäre schon cool, wenn ich derjenige sein könnte, der dieses Warten beendet“, sagt er.

Was allerdings passiert, wenn es nichts wird mit dem erfolgreichen Auftakt, damit beschäftigt sich Jacob Heidtmann nicht. Negative Gedanken versucht der Zimmergenosse von Marius Kusch (28/Essen) auszublenden. Er freut sich trotz aller Corona-Umstände riesig auf die Erlebnisse, „es werden auf jeden Fall außergewöhnliche Spiele, und es gibt keinen Grund, deshalb herumzuweinen, sondern wir können dankbar sein, dass wir das erleben dürfen“, sagt er.