Sevilla. Zu hohe Temperaturen in Sevilla, zu emotionale Reaktionen gegen Stürmer Morata: Der EM-Mitfavorit wird seinen Ansprüchen nicht gerecht.

Wie die Jungfrau zum Kind kam Sevilla zur Fußball-EM. 2020 hätte Spanien in Bilbao gespielt, doch 2021 wollten die Basken der Uefa keine Zuschauer garantieren. Und bevor man die Spiele ganz verloren hätte, ordnete der Verband den Umzug in den Süden an. In der Stadt gibt es drei Stadien. Die beiden stimmungsvollen der lokalen Erstligisten Betis und FC sowie das hässliche Entlein „La Cartuja“, das beide Klubs seit jeher meiden wie den Besuch bei der ungeliebten Tante. Hier finden nun also vier Spiele der EM statt. Das erste zwischen Spanien und Schweden endete 0:0.

In der Enttäuschung über den verpassten Auftaktsieg war danach auch „die Kartause“ – erbaut für die Leichtathletik-WM 1999 und wahrlich keine Schönheit – ein Thema. Denn Sevilla im Sommer, das ist, wie Ex-Nationaltrainer Javier Clemente sagte, „toll, um ein Bier zu trinken, aber im Fußball ein Bündnis mit dem Feind“. Um die 40 Grad waren es am Spieltag, immer noch 30 bei Anpfiff um 21 Uhr. Auf dem ausgedörrten Rasen hoppelte der Ball mehr, als dass er lief.

Kein Tiki-Taka: Spanien kommt nicht in den Spielfluss

Gegner der spanischen Klubs im Europapokal richten ihren Platz manchmal extra so her, denn jeder weiß ja: Keine Spielweise braucht so sehr einen feuchten, berechenbaren Rasen wie das spanische Präzisionspassspiel. Entsprechend groß war der Frust, dass aus dem vermeintlichen Heimvorteil ein Heimnachteil geworden war. „Der Platz hat nicht geholfen, die Spieler hatten Probleme, den Ball zu kontrollieren, sie haben sich darüber in der Kabine beschwert“, berichtete Nationaltrainer Luis Enrique (51) und forderte: „Das muss besser werden.“

Noch in der Nacht begannen die Gärtner ihre Mission; ob es was hilft, wird man am Samstag (21 Uhr) gegen Polen sehen. In der Cartuja fiel aber noch ein zweites, grelleres Eigentor. Ob es an den Temperaturen lag? Jedenfalls hatten die gut 10.000 Zuschauer kein sehr robustes Nervenkostüm mitgebracht. Nach einem an sich guten Teamvortrag reichte gegen Ende der ersten Halbzeit eine vergebene Großchance von Alvaro Morata für Seufzen und Grummeln über den Mittelstürmer. Den 28-Jährigen von Juventus Turin verunsicherte das so sehr, dass er in der zweiten Halbzeit immer schlechter spielte. Nach einem vergeblichen Versuch der Aufmunterung schwollen die Proteste zu Pfeifkonzerten gegen Morata an, wie man sie bei Heimturnieren gegen eigene Spieler selten erlebt hat.

Morata zieht den Groll der spanischen Fans auf sich

Goalgetter ohne Goal haben es nie leicht, sicher. „Ich finde mich in Morata wieder, ich habe das auch erlebt“, sagte Julio Salinas (58), spanischer Ex-Nationalstürmer, und merkte zur Sachlage an: „Da wird ohne jeden Sinn und ohne jeden Grund eine Lawine losgetreten.“ Tatsächlich hatte Morata anfangs gut gespielt, und zudem sind die Alternativen auf Spaniens notorischer Problemposition rar. Allerdings hat die Anti-Morata-Stimmung auch eine persönliche Komponente.

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Der 28-Jährige hat oft den Verein gewechselt, spielte in Madrid für die Lokalrivalen Real und Atlético, hat sich aber bei keinem eine Hausmacht erarbeitet und kann in Interviews die Dinge fast so selbstverliebt zu seinen Gunsten interpretieren wie sein Juve-Klubkollege Cristiano Ronaldo. Ohne halt annähernd dessen Torquoten abzuliefern. Sein eingewechselter Ersatzmann Gerard Moreno (29) wurde vom Publikum demgegenüber stürmisch gefeiert.

Nationaltrainer Enrique hat in Spanien viele Kritiker

Bei der Stürmerfrage können die Kritiker Enrique gerade am besten erwischen. Und Kritiker hat er seit seiner Kadernominierung genug. Kapitän Sergio Ramos ließ er daheim, unter Hinweis auf dessen fraglichen Gesundheitszustand, dazu als erster Turniertrainer in Spaniens Geschichte jedweden Profi von Real Madrid. Auch von den Klubs aus dem Spielort Sevilla ist keiner dabei. Im Verbund ergibt das keine belastbare Stimmungsbasis für zähe Momente wie gegen ultradefensive Schweden. Und erst recht nicht für die folgenden Mediendebatten. Immerhin, eine gute Nachricht gibt es: Es soll kühler werden in Sevilla.