London. Spaniens Nationaltrainer Luis Enrique hat die Kritiker verstummen lassen. Sein Duell gegen den Rivalen Italien hat eine Vorgeschichte.
In seiner Rage zeigte Luis Enrique immer wieder auf seine Nase. Das Blut begann den Hals hinunterzulaufen und das weiße Trikot einzufärben. Doch Sandor Puhl, der ungarische Schiedsrichter, wollte nichts gesehen haben und sowieso konnte er nichts mehr ändern. Es waren ja Zeiten weit vor dem VAR, damals beim WM-Viertelfinale 1994 in Boston, als Roberto Baggio in der 87. Minute den Siegtreffer für Italien erzielte und sein Teamkollege Mauro Tassotti dem spanischen Angreifer Luis Enrique Martínez García in der Nachspielzeit mit einem Ellbogenstoß die Nase brach.
Luis Enrique trifft auf den Rivalen von damals
Die Szene avancierte in Spanien zum Sinnbild für unglückliches, heroisches Scheitern. Hätte der damals 24-jährige nicht bald einen polemischen Wechsel von Real Madrid zum FC Barcelona vollzogen, wäre er dort nicht zum Kapitän aufgestiegen und später als Trainer zum Champions-League-Sieger, und würde er heute nicht die Nationalelf betreuen: sie hätte Luis Enrique für alle Zeiten definiert. So bekommt er nun als Coach das Halbfinale eines großen Turniers, das ihm als Spieler versagt geblieben ist. An diesem Dienstag trifft Spanien in London auf den Rivalen von damals, Italien.
Auch durch den Spielort schließt sich für Luis Enrique (51) damit ein Kreis: in Wembley debütierte er 2018 als Auswahltrainer mit einem 2:1 in der Nations League gegen England. Es scheint eine Ewigkeit her, so viel ist seitdem passiert.
Enriques Tochter starb mit neun Jahren an Krebs
Im März 2019 reiste er aus persönlichen Motiven über Nacht von einem EM-Qualifikationsspiel auf Malta ab und verschwand aus der Öffentlichkeit. Ein halbes Jahr später gab es traurige Gewissheit über die Hintergründe, als seine neunjährige Tochter Xana an Knochenkrebs starb.
Mittelbar hat Luis Enrique zu EM-Beginn noch einmal daran erinnert. Während der Hysterie um den positiven Covid-Test von Kapitän Sergio Busquets sagte er: „Für mich ist das ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was ich schon durchleben musste.“
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Ausführlicher hat der Vater zweier weiterer Kinder über den Schicksalsschlag gegenüber den Medien nie gesprochen, denn seine Arbeit ist ja das Spiel. Eines, das er so liebt, dass „mir schnell klar wurde, dass ich wieder in mein altes Leben zurückwollte“.
Im November 2019 erklärte er sein Comeback als Nationaltrainer, und wo das eigentlich unisono als wundervolle Nachricht betrachtet wurde, erlebte Spanien trotzdem eine tagelange Schlammschlacht um ihn und Interimstrainer Robert Moreno. Dieser, sein ehemaliger Assistent, hatte während seiner Abwesenheit den Job so gut gemacht, dass er offenbar mindestens damit rechnete, auch die EM zu coachen.
An Enrique scheiden sich die Geister - wie eh und je
Ungeschickte Verbandskommunikation tat ihr Übriges, die verwirrte Öffentlichkeit rätselte, wer wem was wann versprochen hatte. Luis Enrique jedoch sah die Sache ganz klar – und setzte Moreno unter dem Vorwurf der Illoyalität auf die Straße. „Ich verstehe seine Ambition, aber maßlose Ambition ist keine Tugend, sondern ein Defekt.“
Heute redet kaum noch einer über Moreno, dafür dreht sich noch mehr um Luis Enrique, als das bei Nationaltrainern sowieso üblich ist. Anteilnahme und Schonfrist wegen seiner privaten Tragödie sind längst vergangen, wie eh und je scheiden sich an ihm die Geister.
Kapitän Sergio Busquets verehrt ihn als "Spitzentrainer"
Von der Kadernominierung ohne Sergio Ramos und Spieler von Real Madrid bis zum Beharren auf Stürmer Álvaro Morata, von seiner direkten, flapsigen Art bis zur Absage an jedwede Diplomatie oder Kungelei mit den Journalisten. Seine Kritiker, die vor allem aus dem Lager der Real-Sympathisanten kommen, unterstellen ihm, die spanische EM-Kampagne zu seiner eigenen Show machen zu wollen.
Die Mannschaft freilich hat er nicht zuletzt genau deshalb hinter sich geschart, weil er durch seine robuste Art viel Druck auf seine Person lenkt. Intern, lobt Leipzigs Angreifer Dani Olmo, sei er „ein zugänglicher Typ, mit dem du immer reden kannst, wenn du es brauchst“. Kapitän Sergio Busquets, früher schon bei Barça sein Spieler, feiert das „Privileg, auf einen Spitzentrainer zählen zu können“. Tatsächlich ist er der einzige Übungsleiter im EM-Feld, der schon mal einen Champions-League-Sieg gecoacht hat.
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Beim FC Barcelona begann er seine Trainerkarriere in der zweiten Mannschaft. Danach versuchte er sich mit mäßigem Erfolg in Italien beim AS Rom und mit mehr bei Celta Vigo, ehe er zu seinem Herzensklub zurückkehrte. Jenseits des epochalen Dreizacks aus Lionel Messi, Neymar und Luis Suárez stand sein Barça für eine Mischung aus klassischem Ballbesitzfußball und intensivem Umschaltspiel. Denselben Mix predigt er nun auch bei seiner überwiegend jungen, lauffreudigen Nationalelf.
Luis Enriques Mannschaften spielen, wie er ist: ein Mann mit offenem Visier, der von Rückschlägen aufsteht – und der auch vergeben kann. Jedenfalls Dinge, die auf dem Platz passieren. Im Oktober traf Spanien auf die Ukraine, bei der mittlerweile Mauro Tassotti als Co-Trainer arbeitet. Vor dem Anpfiff ging Luis Enrique auf sein einstigen Peiniger zu und begrüßte ihn freundlich, und heute erlebt er, was Tassotti damals aufgrund einer nachträglichen Sperre versagt blieb: das Halbfinale eines großen Turniers.