Berlin. Sprinterin Gina Lückenkemper ist Deutsche Meisterin über 100 Meter. Doch was bedeuten ihre 10,99 Sekunden mit Blick auf die WM?

Als Gina Lückenkemper über die Ziellinie geschossen kam, blickte sie ungläubig auf die Anzeigetafel. Jubelschreie, Freudentränen – die 25-Jährige durchlief das volle emotionale Programm, das nach einem gelungenen Comeback ansteht. „Gina ist zurück“, hatte sie vor wenigen Tagen noch verkündet, als sie die 100 Meter in Wetzlar in 11,04 Sekunden gemeistert hatte. Und nun: „Gina ist definitiv zurück“, rief sie am Samstagabend lachend ins Stadionmikrofon. 10,99 Sekunden war sie im Berliner Olympiastadion gerannt. Unter elf Sekunden – so schnell war sie zuletzt 2018, als sie an gleicher Stelle bei der EM zu Silber in 10,98 Sekunden raste. „Ich liebe dieses Stadion“, rief sie euphorisch. Wieder hatte sie es hier gespürt auf der von ihr so geschätzten markanten blauen Bahn, dieses „Gefühl des Fliegens. Dann weiß man, dass es schnell wird.“

Es wurde schnell, Lückenkemper ist wieder Deutsche Meisterin – ein blaues Wunder. „Ganz viele Leute machen aus mir jetzt ein Comeback-Kid, aber ich finde ja: Ich bin nie weg gewesen. Ich habe einfach nur Verletzungspech gehabt“, sagte sie und blickte auf die vergangenen Monate zurück. Jene Tage, in denen die Pandemie die Reisen zu ihrem Trainingsstützpunkt in Florida zu Trainer Lance Brauman unmöglich machte, in denen sie alleine im Garten trainierte, immer wieder von Verletzungen ausgebremst wurde. Die Monate, in denen die Frohnatur ihre Leichtigkeit verloren hatte. Denn hinzu kamen ja die Beleidigungen und Anfeindungen in den Sozialen Medien. „Am schlimmsten war, dass in der Gesellschaft auf jemanden, der am Boden liegt, eher drauf getreten wird, als dass eine helfende Hand kommt“, sagte sie.

Anfeindungen in Sozialen Medien

Seit vergangenem November aber läuft es wieder besser. Viel besser. In Florida quälte sich Gina Lückenkemper zuletzt wieder an der Seite von Stars wie 200-Meter-Weltmeister Noah Lyles oder 400-Meter-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo, mit „so vielen genialen und inspirierenden Menschen“. Da fiele es ihr leicht, über die Schmerzgrenze hinauszugehen: „Man will sich nicht die Blöße geben. Das ist eine ganz besondere Atmosphäre.“ Und: Sie sei „unfassbar glücklich“.

Die dunklen Tage sind also vergessen, im sonnendurchfluteten Olympiastadion ging der Blick wieder Richtung Zukunft. Die WM      im nordamerikanischen Eugene  (ab 15. Juli) und die EM in München (ab 15. August) stehen an, die Normen hat die für den SCC Berlin startende Soesterin geknackt. Doch wie weit würde sie eine 10,99 auf internationalem Parkett tragen?

Die Top Sechs der USA ist schneller...

Anders als bei der nur spärlich besuchten DM hätte diese Zeit beispielsweise bei den US-Meisterschaften nicht einmal für die Top Sechs gereicht, Melissa Jefferson siegte dort in 10,69 Sekunden. Jamaikas Weltmeisterin Shelly-Ann Fraser-Pryce hat in diesem Jahr schon 10,67 Sekunden hingelegt. Die Schweizer Meisterin Mujinga Kambundji rannte 10,89 Sekunden. Selbst wenn es gut liefe, wäre bei der WM wohl spätestens im Halbfinale Schluss. Weltweit liegt Lückenkemper derzeit auf Rang    31. Immerhin, und das lässt auf München hoffen: In Europa ist sie derzeit die Nummer drei.

Was bei den Frauen schon erschreckend klingt, scheint bei den Männern mit Blick aufs internationale Geschehen noch eklatanter. Von einer WM-Teilnahme ist der schnellste deutsche Mann noch weit entfernt. Owen Ansah vom Hamburger SV siegte in 10,09 Sekunden. Die WM-Norm verpasste er um vier Hundertstelsekunden. Dass die deutschen Männer in       Eugene nur mit der Sprintstaffel vertreten sein werden, ist wahrscheinlich. Zum Vergleich: Der Olympiazweite Fred Kerley legte jüngst bei den US-Meisterschaften eine 9,77 auf der WM-Bahn in Eugene hin.

Das Potenzial ist da

Gina Lückenkemper weiß um den immensen Abstand zwischen Deutschland und dem Rest der Welt. Ihr sei „die Kinnlade runtergefallen“, als sie etwa die Zeiten von den US-Meisterschaften gesehen habe. Dennoch: Eine Zeit unter elf Sekunden sei ja „noch immer etwas Besonderes“. Und sie könne ja noch zulegen, ist sich Gina Lückenkemper sicher. „Gesund bleiben. Weiter arbeiten“, sei die Vorgabe für die nächsten Wochen. Dann könne sie ihre Bestzeit von 10,95 Sekunden aus dem Jahr 2017 angreifen. Dann will sie wieder fliegen, im „Flow“ sein. Was so schwer ist, fühlte sich ganz leicht an. „Dann merkt man: Geil“, sagte Lückenkemper.