Berlin. Wie aus dem oft unterschätzten Hertha-Verteidiger ein WM-Fahrer wurde – und was ein Zettel seines Vaters damit zu tun hat.
Das Elternhaus von Marvin Plattenhardt hat einen Keller. Dort gibt es ein Zimmer. Es ist klein, aber wer hineingeht, der betritt ein Museum.
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An der Wand hängen sieben Paar Fußballschuhe. Mit jedem davon hat Plattenhardt ein Tor in seiner Bundesliga-Karriere erzielt. Immer per Freistoß. Daneben hängen Fotos und gerahmte Trikots aus Plattenhardts Jugend in Reutlingen, aus den ersten Profitagen in Nürnberg und aus seiner Zeit nun bei Hertha BSC. In den Schränken stehen Ordner mit Zeitungsartikel über ihn. Die meisten haben seine Großeltern ausgeschnitten. Doch es kommt vor, dass Plattenhardt selbst Artikel mitbringt, wenn er nach Hause fährt. Das Zimmer im Keller ist eigentlich der Arbeitsraum von Vater Kurt. Aber dort im Elternhaus in der württembergischen Gemeinde Frickenhausen ist es auch die begehbare Karriere seines Sohnes. „Mein Papa führt das Archiv“, sagt Marvin Plattenhardt, „ich hoffe, es kommt noch einiges hinzu.“
Es ist Anfang Mai. Noch sind es ein paar Wochen bis zur WM und der 26-Jährige willigt nur unter einer Bedingung zu einem Treffen ein: Nichts davon soll erscheinen, bis feststeht, dass er dabei ist in Russland. Es sind komplizierte Zeiten. Zu früh von seiner WM-Teilnahme zu sprechen, könnte ihn überheblich wirken lassen. Bundestrainer Joachim Löw ist da sensibel. Plattenhardt will keine Fehler machen. Und es passt auch nicht zu ihm. Überheblich waren eher andere. Er war vielleicht zu leise. Deshalb hat man ihn manches Mal übersehen. So ist der Linksverteidiger außerhalb von Berlin der Unbekannteste unter den 23 deutschen WM-Fahrern. Wichtig ist das Plattenhardt nicht. Wichtig ist, dass er dabei ist. „Ein irres Gefühl“, sagt er.
Fußballprofis benötigen eigentlich kein Archiv. Sie besitzen oft ein gutes Gedächtnis, wenn es um ihre Karriere geht. Als wüsste das Gehirn, dass es rare, kostbare Jahre sind, die es festzuhalten gilt. Plattenhardt weiß noch genau, an welchem Tag er sein erstes Bundesligaspiel bestritt (5. Dezember 2010), wie es ausging (0:2 mit Nürnberg gegen Dortmund) und wer sein Gegenspieler war (Mario Götze). Ein Profi ist auch ein Momentesammler.
Plattenhardts Weg zur WM ist erstaunlich
Für das Privatarchiv im Keller der Eltern und das im Kopf von Marvin Plattenhardt kommen nun neue Momente hinzu. Am Dienstag reist Plattenhardt mit der Nationalmannschaft nach Russland zur WM. Überraschend war Löws Entscheidung für ihn nicht mehr. Plattenhardt ist als Ersatzmann eingeplant, sollte sich der Kölner Linksverteidiger Jonas Hector verletzten. Seine leise Art war nun ein Argument. Und trotzdem ist sein Weg von Frickenhausen nach Moskau erstaunlich. Wie konnte aus einem Spieler, der nach seiner Ankunft in Berlin ein halbes Jahr für zu schlecht befunden wurde, ein deutscher WM-Fahrer werden? Wie reifte aus einem, der nie groß im Rampenlicht stand, ein Profi, der nun Weltmeister werden könnte? Die Antworten liegen Jahre zurück. Sie haben mit einer Umschulung zu tun und einem Zettel, den sein Vater einst schrieb.
Anruf bei Kurt Plattenhardt. Eine warme Stimme meldet sich. Es ist selten geworden, dass Eltern von Nationalspielern mit der Presse sprechen. Die Zeiten sind kompliziert. Kurt Plattenhardt aber möchte erzählen. Seine Geschichte ist die vom Stolz eines Vaters, aber auch von der Überzeugung, dass man mit ehrlicher Arbeit nach oben kommen kann. Marvin Plattenhardt wuchs in einer Sportlerfamilie auf. Seine Mutter spielte Volleyball, seine Schwester auch. Sein Bruder Luca (20) ist Fußballprofi. Opa Walter war ebenfalls Linksverteidiger. Auch Vater Kurt spielte Fußball – bei den Stuttgarter Kickers, bis ihn Verletzungen stoppten. Er wurde Spielertrainer und ließ seinen Sohn mit den Erwachsen trainieren, als dieser erst elf Jahre alt war.
Kurt Plattenhardt zeigte seinem Sohn buchstäblich den Weg in den Profifußball. Als Marvin Plattenhardt in den Nachwuchs des 1. FC Nürnberg wechselte, schenkte er ihm ein Blatt Papier. Darauf gezeichnet war eine Treppe. Die ersten drei Stufen waren benannt mit „U17“, „U19“ und „U23“. Danach kamen „3. Liga“, „Zweite Liga“, „Bundesliga“. Weitere Treppen führten hoch: „Europa League“, „Champions League“, und „Nationalmannschaft.“ „Ich wollte Marvin zeigen, wo er steht, und wohin es gehen kann“, sagt Kurt Plattenhardt. Sein Sohn hat sich diesen Zettel damals über sein Bett gehängt. In den Jahren danach holte er ihn oft hervor. „Ich habe immer gedacht: Jetzt bist du auf dieser Stufe, dann schaffst du auch die nächste“, sagt Marvin Plattenhardt. Heute noch bewahrt er das Blatt Papier auf.
Viele Nationalspieler steigen in frühen Jahren rasant auf
Die gezeichnete Treppe nach oben hat die Karriere von Plattenhardt vorweggenommen und in welchem Tempo sie verlaufen würde. Viele Nationalspieler steigen schon in frühen Jahren rasant auf. Mario Götze schoss mit 22 das Siegtor im WM-Finale. Plattenhardt dagegen nahm einen Schritt nach dem anderen. Mit 18 wurde er Profi in Nürnberg, aber erst mit 23 etablierte er sich bei Hertha in der Bundesliga. Mit 25 dann das erste A-Länderspiel, ein spätes Debüt heutzutage. Confed-Cup-Sieg 2017 mit Deutschland. Dann Europa League mit Berlin. „Marvin hat jeder Stufe vielleicht langsamer genommen als andere. Aber er hat sie genommen. Das ist das Wichtige“, sagt Kurt Plattenhardt. „Es geht ja nicht darum, die Treppe hochzustolpern.“
Die Stufen auf seinem Zettel waren auch nach unten gemeint. „Zweite Liga“, „3. Liga“, „vierte Liga“. Marvin Plattenhardt hat den Rückwärtsgang erlebt. Als er 2014 von Nürnberg nach Berlin wechselte, fand er sich unter Trainer Jos Luhukay bald bei den Amateuren wieder. Dort sah ihn Pal Dardai und musste lachen, als ihm Herthas Manager Michael Preetz später erklären wollte, dass das ein guter Spieler sei. Dardai hatte Luhukay im Februar 2015 abgelöst und dachte: „Mit Plattenhardt kann ich nichts anfangen.“ Nach dem ersten Training als neuer Chefcoach ging er vom Rasen direkt in Preetz' Büro und sagte: „Plattenhardt wird Nationalspieler.“
Dass er Glück hatte, weiß Plattenhardt. Manchmal steht dir einer auf der Treppe im Weg. Manchmal hebt dich einer auf die nächste Ebene. „Pal war zu diesem Zeitpunkt der perfekte Trainer für mich“, sagt er. „Sonst hätte ich wohl einen anderen Weg genommen. Vielleicht war das Schicksal.“
Gute Linksverteidiger gibt es selten
Vielleicht war es auch Schicksal, dass in der Jugend des SSV Reutlingen einst der Linksverteidiger den Klub verließ. Dass Plattenhardt nun in Russland dabei ist, hat auch mit seiner Position zu tun. Gute Linksverteidiger gibt es selten. Und eigentlich war Plattenhardt bis zur B-Jugend noch gar keiner. Er spielte im Mittelfeld. Doch als der Trainer einen Neuen hinten links suchte, fand er Plattenhardt, gab ihm die Nummer 21 von seinem Vorgänger und sagte: „Du bist jetzt Linksverteidiger.“ Eine Umschulung, die den Weg nach Moskau erst möglich gemacht hat. Noch heute trägt Plattenhardt die 21 im Klub.
Für Dardai ist dessen WM-Nominierung keine Überraschung. Er sagt, dass Plattenhardt mit seinen Flanken und Freistößen für jedes Team ein Gewinn sei. Dardai macht gerade Urlaub, aber am Telefon erzählt er, was Plattenhardts Reise nach Russland für seinen Verein bedeutet. Nach Bernd Patzke (1970), Erich „Ete“ Beer (1978), Marko Rehmer (2002) und Arne Friedrich (2006 und 2010) ist er erst der fünfte Hertha-Spieler, der für Deutschland bei einer WM dabei ist. „Für das Image von Hertha ist das gut. Das zeigt: Man muss nicht weggehen, um Nationalspieler zu werden“, sagt Dardai.
Plattenhardt wird etwas mitbringen, wenn er aus Russland heimkehrt. Viele Momente, ein Trikot bestimmt, vielleicht eine Medaille. Die Dinge werden ihren Platz bekommen im Keller des Elternhauses in Frickenhausen. Und wenn er dann irgendwann seine Karriere beendet, sagt Marvin Plattenhardt, „setze ich mich da unten ins Zimmer und habe schöne Gedanken.“