Teresópolis. Brasilien und Chile wollten ein gemeinsames Achtelfinale unbedingt vermeiden – nun dürften vor allem die Nerven dieses Spiel gegen den jeweiligen Angstgegner entscheiden. Zuletzt gab es für Chile in K.o.-Spielen gegen den Rekordweltmeister stets klare Niederlagen.

Der Sommer ist zurückgekehrt in die Bergwelt der Serra dos Órgãos, ins Quartier der brasilianischen Nationalmannschaft in Teresópolis. Doch als Zeichen des Himmels, in den die markante Bergspitze Dedo de Deus (Finger Gottes) in Sichtweite des Trainingszentrums Granja Comary weist, wollten selbst die abergläubischen Kicker des Gastgeberlandes das plötzlich wohlig-warme und heitere Ambiente nicht werten. Bloß nicht das Schicksal herausfordern, vor dem Achtelfinale gegen Chile an diesem Samstag in Belo Horizonte (ab 18 Uhr live in unserem Ticker), jenseits des Orgelpfeifengebirges. Lieber schon die Götter milde stimmen, mit einem Empfang von Kindern aus Familien, die 2011 Opfer verheerender Erdrutsche mit Hunderten Toten in Teresópolis wurden.

Chile also, das ist für die Brasilianer ungefähr so schlimm wie Halbfinalspiele gegen Italien für die deutsche Mannschaft. Bloß nicht Chile, das war ja die Ansage bei der Seleção gewesen, lange bevor dieses Schauerstück tatsächlich auf die Agenda rückte. Jetzt werden all die alten Geschichten neu erzählt, in denen es um üble Tretereien und gar eine Rasierklinge geht, mit der sich Chiles Torwart Roberto Rojas 1989 selbst verletzte, um den Abbruch eines Spiels gegen Brasilien zu erzwingen.

Scolari scheint sogar seine Stammelf umzubauen

Auch die Overtüre für die aktuelle Verabredung liegt schon mehr als ein halbes Jahr zurück. Luiz Felipe Scolari war für sie zuständig, in einem wohl unbedachten Moment. Auf die Frage, ob er Weltmeister Spanien oder den WM-Zweiten Niederlande in einem Achtelfinale mehr fürchte, antwortete Brasiliens Trainer nach der Gruppenauslosung im Dezember: „Chile! Gegen die zu spielen, ist ein einziger Schmerz. Jede europäische Mannschaft wäre mir lieber als diese Chilenen. Ich hoffe, sie kommen nicht weiter. Und ich hoffe erst recht, dass wir nicht gegen sie spielen müssen.“

Scolari hat nun versucht, seine etwas ungeschickt offenbarte Furcht vor dem gemeinsamen Achtelfinale wieder einzufangen. So gut es geht jedenfalls, ohne dabei unglaubwürdig zu werden. „Ich wollte Chile nicht, denn ich kenne Chile und die Schwierigkeiten, die meine Mannschaft mit ihnen hatte“, sagte der 65-Jährige vergleichsweise zurückhaltend, „wir dürfen uns nicht viele Fehler erlauben. Chile ist ein großartiges Team. Sie haben viel Qualität und sind sehr gut organisiert.“ Der sonst so treue Scolari scheint deshalb sogar seine Stammelf umzubauen. Fernandinho statt des zuletzt formschwachen Paulinho soll allem Anschein nach versuchen, im zentralen Mittelfeld zusammen mit Luiz Gustavo dagegenzuhalten.

Drei Psychologinnen begleiten die Seleção

Auf die Suche nach den guten Omen sollen sich derweil andere begeben. Denn Scolari weiß, dass dieses Spiel vor allem die Nerven entscheiden dürften, noch mehr als in den anderen drei Auftritten zuvor, bei dieser von immensen Erwartungen der Landsleute aufgeladenen WM. Drei Psychologinnen begleiten die Seleção bei der nationalen Aufgabe. Die drei Frauen dürften nun auch damit beschäftigt gewesen sein, so galant wie möglich das früh geäußerte Horrorszenario des Trainers in positives Denken umzuwandeln. An diesem Samstag könnte schon alles vorbei und die Mission Hexacampeão gescheitert sein. Oder aber, das dürfte der Motivationsansatz gewesen sein: Ein Sieg gegen den Angstgegner könnte Brasiliens Auswahl bestenfalls bis zum angestrebten Gewinn des sechsten WM-Titels tragen. Schwarz oder weiß, für Grautöne ist gerade wenig Platz.

Die Brasilianer sind aber nicht allein mit ihrem mulmigen Gefühl. Auch Gegner Chile wollte dieses Achtelfinale unbedingt vermeiden. Nicht nur, weil es gegen den Gastgeber geht. Sondern auch, weil es bei den drei bisherigen K.o.-Spielen gegen den Rekordweltmeister stets klare Niederlagen setzte, zuletzt ein 0:3 vor vier Jahren, ebenfalls im Achtelfinale. Als das „härteste Los“, hat Arturo Vidal Chiles Alptraum bezeichnet. Aber der ehemalige Bundesligaprofi von Bayer Leverkusen meint nicht ganz überraschend, dass seine Treibjagdkämpfer für die Seleção noch ein bisschen unangenehmer sind. „Wir wollten nicht gegen Brasilien spielen. Aber Brasilien wollte noch viel weniger gegen uns spielen“, sagte er, „ich glaube, dass wir sie schlagen können. Und wer dieses Spiel gewinnt, wird richtig weit kommen.“ Und wer den Weltmeister Spanien besiegen könne, der könne das auch gegen die Gastgeber schaffen, befand Vidal –, sofern der Schiedsrichter sie denn lasse.

Noch gibt sich Brasiliens Superstar Neymar locker

Die Nerven, der Schiedsrichter und zudem Neymar, das könnten wohl die Schlüsselelemente dieses Achtelfinals werden. Es wird spannend sein zu beobachten, wie das Federgewicht Neymar mit den robusten Attacken der Chilenen zurechtkommt – und ob der 22-Jährige dabei von seiner Neigung absieht, irgendwann auch mal auszuteilen, wenn ihm ständig jemand auf die flinken Füße steigt. Sein künftiger Kollege beim FC Barcelona, Chiles Kapitän Claudio Bravo, hat das schon angekündigt, wenngleich eher im übertragenen Sinne. „Wir haben die Spieler und das Können, um ihnen weh zu tun. Wir werden rausgehen und ihnen Schaden zufügen“, sagte der Torwart.

Noch gibt sich Neymar locker. „Ich habe immer gesagt, dass ich keinen Druck verspüre. Vielleicht fehlt mir dafür das Sinnesorgan“, witzelte der kickende Popstar. Da hatte er sicher schon vernommen, was von höchster Stelle von ihm und seinen Kollegen erwartet wird. „Wir sind alle zuversichtlich, dass es gegen Chile eine weitere große Vorstellung geben wird“, twitterte Staatspräsidentin Dilma Rousseff. Ob Sieg oder WM-Aus, sicher scheint: Es wird ein Tag der Schmerzen.