Moskau. Tag 2 bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2013 in Moskau: Zehnkämpfer Michael Schrader holt das erste deutsche Edelmetall der WM und sichert sich in Moskau Silber. Sprinter Usain Bolt hält dem Wirbel um die Doping-Affären seiner Kollegen und dem Druck um seine Person stand und gewinnt erneut Gold im 100-m-Finale.
Der
größte Faxen-Mann des Sports ist ruhiger geworden. Usain Bolt zieht immer noch
eine Show ab, doch auf die ganz ausgefallenen Gesten verzichtete der schnellste
Mensch des Planeten. Und das Publikum musste sogar zehn Minuten warten, bis der
Jamaikaner endlich seinen imaginären Pfeil in den Himmel schoss. Bolt ist
wieder Usain Gold, nachdem er vor zwei Jahren bei der WM in Daegu wegen eines
Fehlstarts über 100 Meter disqualifiziert wurde und seinem Landsmann Yohan
Blake den Titel überlassen musste. In Moskau stürmte Bolt mit seinem ebenso
lockeren wie eleganten Laufstil zum Gold. Mit 9,77 Sekunden hatte er die
Konkurrenz im Griff. Aber Bolts größter Konkurrent ist eh nicht der schon
zweimal überführte Doping-Sünder Justin Gatlin aus den USA, der in 9,85
Sekunden gewann und auch keiner seiner drei jamaikanischen Teamkollegen, die
auf den Plätzen drei bis fünf folgten. Bolts hartnäckigster Gegner ist der
Zweifel, der schon seit Jahren ständiger Begleiter in seinen Rennen ist, der
aber seit den zahlreichen Skandalen der jüngsten Vergangenheit noch größer
geworden ist.
Die
Sprinter-Welt geriet kurz vor der WM in Moskau kräftig ins Wanken, als unter
anderen der Weltjahresbeste aus den USA, Tyson Gay, und der frühere
100-Meter-Weltrekordler Asafa Powell aus Jamaika des Betrugs überführt wurden. Aber
Bolt tat so, als ob ihn das nicht interessiere. „Ich habe meinen Job erledigt
und das zählt. Der zweite Teil des Rennens ist meine Stärke und das habe ich
gezeigt", sagte Bolt nach seinem Gold-Lauf.
"Mir fehlt die Konstanz beim Start“
In dieser
Saison fehlte Bolt die Frische der Vorjahre. „Als ich im Winter wieder ins
Training eingestiegen bin, fehlte mir die Energie. Ich war nicht mehr so
konzentriert, weil ich alle meine Ziele erreicht habe. Ich musste eine neue
Motivation finden. Ich habe mich dann hingesetzt und habe mich gefragt, was ich
wirklich will. Ich weiß, dass ich älter werde“, sagte Bolt, der am 21. August
27 Jahre alt wird, „wenn ich meinen Körper an meine Grenzen bringen will, dann
muss es jetzt passieren. Das ist mein neues Ziel. Und ich spüre, dass ich mich
diesem Vorhaben nähere.“
In Moskau
will Bolt am Samstag über 200 Meter seinen Weltrekord von 19,19 Sekunden
verbessern. „Über 100 Meter müsste ich für einen Weltrekord einen Super-Tag
erwischen. Mir fehlt die Konstanz beim Start“, sagte Bolt, „über 200 Meter ist
es viel einfacher. Da kann ich unter 19 Sekunden laufen.“
Bolt
reduziert die Show und konzentriert sich in Russland offenbar voll und ganz auf
seine Rennen. Denn sein Ziel ist bekannt. Nach dem Gold über 100 Meter sollen
auch die Titel über 200 Meter und mit der Sprint-Staffel folgen. Gelingt ihm
dies, ist Bolt am Ende der WM-Tage von Moskau mit insgesamt acht Gold- und zwei
Silbermedaillen der erfolgreichste Leichtathlet der 30-jährigen WM-Geschichte
und hätte Carl Lewis (7x Gold, 1x Silber, 1x Bronze) abgelöst.
Von seinem
Weltrekord über 100 Meter, der seit seinem WM-Triumph 2009 in Berlin bei 9,58
Sekunden steht, war Bolt im Luschniki-Stadion weit entfernt. Das war wohl die
gute Nachricht des WM-Sonntags.
Vizekönig Schrader feiert Comeback des Jahres
Michael
Schrader ist der Vize-König der Athleten, aber der Weltmeister der Herzen. Nach
einem glänzenden ersten Tag ließ der Duisburger einen überragenden zweiten Tag
folgen und holte sich mit 8670 Punkten bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften
in Moskau die Silbermedaille im Zehnkampf. Weltmeister wurde der Olympiasieger
und Weltrekordler aus den USA, Ashton Eaton mit 8809 Punkten. Bronze gewann der
Kanadier Damian Warner (8512).
Es ist das
Comeback des Jahres, es ist die Geschichte eines Sportlers, der nach
jahrelangen Verletzungsproblemen von den meisten abgeschrieben war. Doch der
26-jährige Schrader aus Duisburg, der für Bayer Leverkusen startet und in
Halle/Saale trainiert, ließ sich nie unterkriegen, verlor zu keiner Zeit den
Glauben an sich selbst – und an seine große Leidenschaft, die wörtlich zu
nehmen ist. Zehnkämpfer müssen hart gegen sich selbst sein. Um sechs Uhr ist
Schrader an beiden Tagen in Moskau aufgestanden. Jeweils über zehn Stunden hat
er diese Kraftprobe in zehn Akten bei über 30 Grad im Luschniki-Stadion
gemeistert. Schrader ist ein sympathischer Strahlemann. Sein Lächeln ist nicht
aufgesetzt, es kommt von innen heraus. Ein Typ wie Frank Busemann. Duisi, wie
Schrader in der Zehnkampfszene in Anlehnung an seine Heimatstadt genannt wird,
hat als erster Zehnkämpfer nach Busemanns drittem Platz bei der WM 1997 in
Athen eine Medaille gewonnen. Und was sagt Busemann zu seinem Nachfolger?
„Michael ist nervenstark, funktioniert unter Druck und hat einfach Lust auf Zehnkampf“,
antwortet der Olympiazweite von 1996. Noch ein Beweis für Schraders
märchenhafte WM-Vorstellung: Seit 17 Jahren hat kein deutscher Mehrkämpfer mehr
eine solche Punktzahl erzielt. „Ich habe immer gewusst, dass Großes leisten
kann, wenn ich gesund bin“, sagte Schrader.
Nach dem
finalen Martyrium über 1500 Meter lag Schrader wie ein Maikäfer auf der blauen
Tartanbahn. Seine Teamkollegen Rico Freimuth und Pascal Behrenbruch halfen ihm
auf die Beine. Freimuth, der mit Schrader in Halle in einer WG wohnt, wurde mit
8382 Punkten Siebter. Europameister Behrenbruch enttäuschte und kam mit 8316
Punkten auf Rang elf. Der 1500 Meter-Lauf, das ist Folter und Erlösung
zugleich. Die Milchsäure schießt in die Oberschenkel, die Lungen brennen. Aber
wenn der Schmerz dann nachlässt, gibt es nichts Schöneres in der
Zehnkampf-Welt.
"Wenn du diese Hassdisziplin überstanden hast, bist du einfach
überglücklich"
Als Michael
Schrader am Freitag keine 24 Stunden vor Beginn des WM-Wettbewerbs im deutschen
Mannschaftshotel Golden Ring gefragt wurde, was für ihn die Faszination des
Zehnkampfs ausmache, antwortete er: „Diese einzigartigen Glücksgefühle nach dem
1500 Meter-Lauf. Wenn du diese Hassdisziplin überstanden hast, bist du einfach
überglücklich. Das kann nur der richtig nachvollziehen, der das mal selbst
erlebt hat.
Mit
Schmerzen kennt sich Schrader so gut aus wie kaum ein anderer Zehnkämpfer
des Planeten. Vor vier Jahren
katapultierte sich Schrader beim Meeting im österreichischen Götzis mit 8522
Punkten in die Weltspitze. Und das mit 21 Jahren.
Hinter Schrader landeten damals der US-Amerikaner Trey Hardee und der
Frankfurter Pascal Behrenbruch. Während Hardee die WM-Titel 2009 und 2011
gewann und Behrenbruch Gold bei der EM 2012 holte, musste Schrader wegen einer
Fußverletzung einen vierjährigen Leidensweg hinter sich bringen. Die WM 2009 in Berlin hat Schrader wegen seiner
Verletzung ebenso verpasst wie die EM 2010, die WM 2011 und Olympia 2012.
Nervlich belastend sei das unfreiwillige Zuschauen gewesen, gibt er zu. „Aber
ans Aufhören habe ich keinen Gedanken verschwendet“, sagt er, „der Zehnkampf
ist meine große Leidenschaft. Ein Hobbybastler gibt auch nicht auf, wenn er
sich in den Finger schneidet.“ Erst der Münchner Orthopäde Hans-Wilhelm
Müller-Wohlfahrt bekam die Beschwerden des Mehrkämpfers in den Griff. „Dem Doc
habe ich unglaublich viel zu verdanken“, sagte Schrader, „er hat mich gesund
gemacht.“ Und zum Weltmeister der Herzen gemacht.