Daegu. Der junge David Storl gewinnt bei der Leichtathletik-WM sensationell Gold im Kugelstoßen – 21,78 Meter im letzten Versuch bringen den Sieg. „Wir haben in Daegu die Zukunft des Kugelstoßens gesehen“, sagte der 21-Jährige.
Dem neuen Weltmeister im Kugelstoßen ist spät am Abend die Kraft ausgegangen. David Storl hat die Rollen seiner Trainingstasche ausgeklappt und zieht seine Sachen hinter sich her. Er hat jetzt gefühlte tausendmal das Wort „unglaublich“ gesagt. Aber genau dieses Wort trifft es – und muss noch ein weiteres Mal herhalten: Durch eine unglaubliche Leistungssteigerung um satte 73 Zentimeter hat der 21-Jährige aus Chemnitz bei der Leichtathletik-WM in Daegu mit einer Weite von 21,78 Metern den Titel gewonnen.
Kugelstoßen ist eine Disziplin, in der Doping so häufig ist wie Tannenbäume zu Weihnachten. Der Weißrusse Andrej Michnewitsch, der mit 21,40 Metern Bronze hinter dem Kanadier Dylan Armstrong (21,64 m) gewann, war nicht nur Weltmeister und Olympiasieger, sondern hat auch eine Sperre abgesessen. Er verfügt über die Brummstimme eines Bären, spricht aber nicht über Doping.
So dauert es fast eine Stunde, bis das Wort Doping an diesem Abend erstmals im Umfeld des neuen Weltmeisters auftaucht. Die Frage lautet: Wie viele Kontrollen haben Sie zuletzt gehabt, Herr Storl? Der 21-Jährige zählt auf: „Die letzte am Tag vor dem Finale nach meiner Qualifikation, eine Blutkontrolle bei der Ankunft in Daegu, eine Urinkontrolle bei der Abreise aus dem Trainingslager, dazu regelmäßig die Kontrollen in Deutschland.“
Es bleibt das Staunen
Natürlich ist Storl als Mitglied der Nationalmannschaft im Meldesystem verankert, in dem er an jedem Tag des Jahres eine Stunde angeben muss, in der er mit Sicherheit für unangemeldete Kontrolleure erreichbar sein muss. Trotzdem bleibt das Staunen: Er ist mit einer persönlichen Bestleistung von 21,05 Metern nach Südkorea geflogen, hat sich in der Qualifikation auf 21,50 Meter gesteigert und im Finale über 21,60 Meter auf 21,78 Meter am Ende verbessert.
Wo liegt denn nun das Geheimnis seines Erfolges?
In einem Punkt wischt Storl die Fragen sofort vom Tisch. Er verrät nicht, was ihm sein Teamkollege und Altmeister Ralf Bartels – der Zehnter wurde und auf der Anlage wartete – vor dem letzten Versuch geraten hat: „Das bleibt Betriebsgeheimnis.“ Er sagt das augenzwinkernd. Schließlich hat er sich Gold erst mit dem letzten Stoß gesichert. Auf 21,78 Meter fliegt die Kugel. Ein Krachen in der Kugelstoßer-Welt, das der Donnergott nicht besser hingekriegt hätte.
Der Silbermedaillen-Gewinner Armstrong, der mit 22,21 Metern als Bester des Jahres ins Finale gestartet war, klopft Storl auf die Schulter: „Ich finde es gut, dass ein junger Mann bei uns Jungs an Bord gekommen ist.“ Damit nicht genug: „David wird bei den Olympischen Spielen in London mit Sicherheit wieder auf dem Podium stehen.“
Ursachenforschung. Bis zum Jahr 2005 war Storl ein Mehrkämpfer. „Erst 2006 habe ich mich auf das Kugelstoßen spezialisiert“, erzählt er. Eher aus einem traurigen Zufall heraus. Sein damaliger Trainer starb an einem Herzinfarkt, der andere Leichtathletik-Trainer des kleinen Klubs VfA Rochlitzer Berg bei Chemnitz war ein Kugelstoßer. Also wurde Storl Kugelstoßer.
Storl wirkt wie ein tapezierter Bleistift
Eine zierliche Japanerin steht vor ihm und sagt: „Sie sehen so dünn aus zwischen all’ den anderen Kugelstoßern.“ Sie hat Recht. Von oben, von der Tribüne aus, wirkt Storl zwischen den Riesen schmal wie ein tapezierter Bleistift. Als der Pole Tomasz Majewski nach seinem Aus in der dritten Runde sein Trikot über den Kopf zieht und auf den Boden feuert, glaubt man aus der Ferne, einen gestrandeten weißen Wal zu erkennen.
Storl lächelt die Japanerin an und nickt: „Stimmt, aber ich tue etwa dafür, damit ich bald nicht mehr so schlank aussehe. Irgendwann möchte ich 130 oder 135 Kilo wiegen.“ Damit würde er noch mehr Wucht hinter seine Stöße kriegen. Im Moment bringt Storl bei einer Größe von fast zwei Metern 122 Kilo auf die Waage. „Ich habe mich in diesem Jahr wirklich bemüht beim Essen“, sagt er. „Aber ich habe nur vier Kilo zugenommen.“
Manchmal möchte man die Sorgen anderer Leute haben.
Doch bei Storl ist nicht alles auch lustig, was lustig klingt. Er hat optimale Hebel für einen Kugelstoßer, aber er lebt in einem ständigen Balance-Akt zwischen Gewicht, Wucht und Geschwindigkeit. Durch seine Zeit als Mehrkämpfer hat er mehr Schnelligkeit und Spannung in seiner Bewegung als die Konkurrenz. „Diese Schnelligkeit darf ich nicht verlieren“, weiß er.
Armstrong, der Kanadier, ist sich sicher, dass dieses nicht passieren wird. Zum Abschluss des Abends versichert er: „Wir haben in Daegu die Zukunft des Kugelstoßens gesehen.“ Dann steht die Zukunft auf und geht zur nächsten Dopingkontrolle. Die Zukunft zieht dabei einen Koffer auf Rollen hinter sich her.