Essen. Unser Redakteur Hendrik Niebuhr sammelt Fußballplätze. Siebte Liga am Niederrhein, Zweite Liga in Belgien – und: England, ein Traum.
Es ist kalt an diesem Novemberabend in Mönchengladbach-Rheydt. Bei Temperaturen von knapp über dem Gefrierpunkt kämpfen auf dem Rasen der Rheydter SV und Gegner SV Lürrip um Punkte in der Bezirksliga Niederrhein, Staffel drei. Siebte Liga. Rund 250 Zuschauer haben sich vor Ort eingefunden, eine bemerkenswerte Zahl für ein solches Amateurspiel. Mindestens die Hälfte von ihnen – darunter auch den Autor dieser Zeilen – interessiert das Geschehen auf dem Platz jedoch nur am Rande. Der Star ist das Rheydter Jahnstadion – noch. Denn bald rollen hier die Bagger, weshalb viele Schaulustige nur gekommen sind, um das sehenswerte Stadion noch einmal zu besuchen.
Für mich ist es nicht der erste Besuch beim RSV. Anfang Mai hatte ich das Jahnstadion bereits begeistert „gekreuzt“. So lautet der Terminus unter so genannten Groundhoppern beim erstmaligen Besuchs eines Stadions oder Sportplatzes. Groundhopping – das ist nichts anderes als eine Sammelleidenschaft von Fußballfans, bei der es darum geht, Spiele in möglichst vielen Stadien zu besuchen. In diesem Jahr habe ich 141 Fußballspiele vor Ort gesehen, von der Champions League bis in die tiefsten Niederungen des Amateurfußballs. Das sind viele? Ich kenne Leute, die schaffen 300.
Groundhopping kommt aus England – die Idee entstand in den 70er-Jahren
Während andere Menschen gerne Musik machen oder ins Kino gehen, verbringe ich meine Freizeit am liebsten an einem Fußballplatz. An kaum einem Ort kann ich besser abschalten. Ob Profi- oder Amateurbereich ist mir dabei nahezu egal.
Das Groundhopping kommt, wie sollte es auch anders sein, aus dem Mutterland des Fußballs. Der Brite Geoff Rose hatte 1974 die Idee, für Fans, die sämtliche 92 Stadien der vier englischen Profiligen gesehen hatte, eine spezielle Krawatte zu produzieren. Der „92 Club“ wurde vier Jahre später gegründet und ist auch heute noch ein durchaus beliebtes Ziel vieler „Hopper“.
Seit den 90er-Jahren ist Groundhopping auch in Deutschland populärer geworden. Eine Vereinheitlichung der Regeln, wann ein Ground – also ein Stadion oder Sportplatz – gezählt wird, gibt es aber bis heute nicht. Einigen reicht es, lediglich eine Halbzeit eines Spiels gesehen zu haben, um es für sich selbst gelten zu lassen. So können an einem Tag häufig problemlos zwei, drei oder gar vier Spiele kombiniert werden. Für mich persönlich gilt: Wenn ich ein Spiel besuche und dort Eintritt zahle, dann will ich natürlich auch die kompletten 90 Minuten sehen.
Groundhopper orientieren sich heute an einer App
Während viele Groundhopper ihre Spielbesuche früher klassisch in einer Excel-Tabelle dokumentiert haben, gibt es mittlerweile wie für fast alles eine App. Die praktischste Funktion ist die Möglichkeit, sich hier Spiele anzeigen zu lassen, die an einem Tag in einem ausgewählten Umkreis stattfinden. So kommt es dann schon einmal vor, dass ich nach einem Arbeitstag unter der Woche rund 200 Kilometer von Essen nach Belgien fahre, um mir ein Pokalspiel zwischen VV Sint-Truiden und Zweitligist Oud-Heverlee Leuven anzuschauen. Als ich das in der Redaktion erzählte, fragte mich ein Kollege, ob ich eine Meise hätte. Ich lächelte wissend und antwortete schlicht: „Ja.“ Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man von vielen für verrückt gehalten wird. Es ist ja auch ein schräges Hobby. Aber ich liebe es.
Jede Tour hat ihren eigenen Charme. Ich entdecke Orte und Städte, die ich sonst wohl niemals besucht hätte. Außerdem ist es für mich noch immer ein besonderes Gefühl, zum ersten Mal ein neues Stadion zu betreten und die Atmosphäre im Inneren aufzusaugen. Es ist nicht nur Fußball, sondern auch eine Art Kultur, die mich immer wieder aufs Neue in ihren Bann zieht.
Ganz oben auf der Prioritätenliste steht das Sammeln von Länderpunkten
Weit oben auf der Prioritätenliste vieler Groundhopper steht das Sammeln neuer Länderpunkte. Der erste Stadionbesuch in einem neuen Land gilt als Länderpunkt, es gibt Hopper, die haben weit über 100. Ein guter Freund von mir schaute in diesem Jahr unter anderem Spiele im Kosovo, in Nordmazedonien und Jordanien. Für mich selbst haben sich derartig exotische Touren bislang nicht ergeben, aber inzwischen achte ich bei meiner Urlaubsplanung auch darauf, auf einer Reise möglichst noch ein Fußballspiel sehen zu können. Die Flexibilität meines persönlichen Spielplans hat aber ihre Grenzen – denn der eigene Verein geht immer vor.
„Mein“ Verein, das ist der SV Meppen. Auch wenn ich im Ruhrgebiet wohne: Meppen ist und bleibt meine Heimat. Nicht einmal einen Kilometer vom Stadion entfernt bin ich aufgewachsen, mein Vater nahm mich bereits mit zwei, drei Jahren zu den damaligen Spielen in der Zweiten Liga mit. Inzwischen spielt der kleine Verein aus dem Nordwesten immerhin wieder in der Dritten Liga. Noch immer bemühe ich mich, möglichst viele Spiele im Stadion verfolgen zu können – sowohl heim als auch auswärts. In den vergangenen Monaten war ich unter anderem in Chemnitz, Unterhaching, München, Rostock und Würzburg, durch die obligatorische Arbeit am Wochenende muss sich das Hoppen häufig auf Spiele unter der Woche beschränken.
Zweimal Berlin vor und nach einmal Braunschweig
Außer es lässt sich an einem freien Wochenende mal ein Auswärtsspiel von einer Tour einrahmen. Als samstags Meppen bei Eintracht Braunschweig spielte, besuchte ich am Tag davor und am Tag danach in Berlin zwei Stadien, die schon längst auf meiner Liste standen: Das Mommsenstadion in Charlottenburg, wo mit Tennis Borussia und Tasmania Berlin zwei ehemalige Bundesligisten inzwischen in der Oberliga aufeinandertrafen, sowie den Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, der vom BFC Dynamo, dem Rekordmeister der DDR, in der Regionalliga genutzt wird. Zwei Stadien mit Geschichte und Charakter, anders als die häufig baugleichen Arenen in der Bundesliga.
Anfang des Jahres ging auch endlich ein lang ersehnter Traum in Erfüllung: Eine Tour nach England. Die Zahl der interessanten Stadien allein in London und Umgebung ist schier unendlich. Höhepunkt der Reise war zweifelsohne das London-Derby zwischen dem FC Fulham und Tottenham Hotspur im wunderschönen Craven Cottage. Das Stadion liegt unmittelbar am Ufer der Themse, inmitten einer Reihenhaussiedlung, der Weg dorthin führt quer durch einen Park. Die Stadionfront zur Straße sieht dank ihrer roten Backsteinmauer wie eine Hausfassade aus, im Inneren des Stadions findet sich das namensgebende „Cottage“, eine alte Scheune, in der inzwischen der VIP-Bereich des Stadions zu finden ist.
Das Craven Cottage in Fulham ist das schönste Stadion
Auf dem Platz bot der krasse Außenseiter einen aufopferungsvollen Kampf, in der Schlussminute schossen die Spurs aber doch das schmeichelhafte 2:1-Siegtor, das auch die damalige Dortmunder Leihgabe André Schürrle nicht verhindern konnte. Die Stimmung war für englische Verhältnisse fantastisch – und ich endgültig angefixt. Das Craven Cottage ist für mich das schönste Stadion, das ich bisher gesehen habe.
Das Jahnstadion in Mönchengladbach-Rheydt genießt unter Groundhoppern und Fußballnostalgikern ebenfalls Kultstatus. 1922 erbaut, fasste es einst 40.000 Zuschauer. Anfang der 50er-Jahre erlebte der RSV seine erfolgreichste Zeit, als er in der damals erstklassigen Oberliga spielte – mit einem jungen Trainer namens Hennes Weisweiler. 1978 fand sogar ein Bundesligaspiel im Jahnstadion statt: zwischen Borussia Mönchengladbach und Fortuna Düsseldorf.
In Rheydt ist sogar ein Fan des FC Everton vor Ort
Vergangene Zeiten. Inzwischen hat sich die Natur das Rund größtenteils zurückgeholt. Die Stehtraversen sind vollends mit Gras bewachsen. Das Spiel an diesem Novemberabend gegen den SV Lürrip ist das vorletzte im RSV-Stadion in seiner alten Pracht. Die Stadt lässt es sanieren, es soll Teil eines hochmodernen Campusparks werden. Immerhin: Die imposante Tribüne soll bleiben.
Groundhopper aus dem ganzen Land sind an diesem Freitag nach Rheydt für ein Siebtligaspiel gereist. Sogar Engländer sind gekommen, ein Blick in die App verrät mir, dass auch ein Fan des FC Everton darunter ist. Der Mann hat 2482 Grounds gesammelt. Ich selbst stehe bei exakt 300.
Die Partie endet 3:1 für Rheydt, das ist aber Nebensache. Beim Verlassen des Jahnstadions schießen die meisten Besucher letzte Erinnerungsfotos. Im Hinterkopf steckt da bereits die nächste Tour.