Essen. Deutschland hat das EM-Halbfinale verloren. Joachim Löw hat seine Zukunft erstmal offen gelassen. Aber er muss weitermachen. Der Kommentar.

Soll Joachim Löw aufhören? In den Sozialen Netzwerken im Internet wabert eine unnötige wie gefährliche Debatte über die Zukunft des Bundestrainers beim Deutschen Fußball-Bund. Unnötig: Weil es keine Alternative zu Löw gibt. Gefährlich: Weil mit jeder unterschwelligen Diskussion, ob seine Aufstellungen bei der EM richtig waren, Löws Autorität in der Öffentlichkeit untergraben wird. Wenn das so weitergeht, kann mit der Zeit das Vertrauen in Löw nachhaltig schwinden. Auch bei den Spielern. Und damit das bei aller Enttäuschung über das EM-Aus im Halbfinale gegen Frankreich nicht vergessen wird: Löw ist der Trainer, der den Deutschen das Fußballspielen auf höchstem Niveau beigebracht und die Nationalmannschaft taktisch brilliant zum WM-Titel 2014 geführt hat. Den Bundestrainer jetzt infrage zu stellen: Das ist absurd.

Löw hat nichts Grundlegendes falsch gemacht. Gehen wir doch mal die Mannschaft durch. Auf der linken Seite muss er Jonas Hector spielen lassen, einen ordentlichen, aber durchschnittlichen Bundesliga-Spieler. Joshua Kimmich hat er umgeschult, damit zumindest ein wenig Dampf über rechts kommt. Das Mittelfeld mit Toni Kroos, Bastian Schweinsteiger oder Sami Khedira, davor Mesut Özil und Thomas Müller steht außerhalb jeder Diskussion: Das ist das Beste, was Europa zu bieten hat. Wenn Müller außer Form ist und Kroos nicht mehr die Impulse wie zu Turnierbeginn geben kann: Was wäre denn die Alternative bei der Aufstellung?

Jetzt soll keiner mit Leroy Sané oder Julian Weigl um die Ecke kommen. Die zwei sind jung, ihnen gehört die Zukunft. Aber EM-Halbfinale? Die Mannschaft hätte nach Kimmich nicht noch mehr Greenhorns vertragen; das ist die Wahrheit. Was soll also der Ärger über Löw bringen?

Auf dem Rasen sind die Dinge komplexer

Was zu lesen ist: Löw hätte mehr Mut zeigen sollen. Aber was soll das bedeuten? Den Franzosen blindlings ins offene Messer zu laufen? Die hätten sich mit ihren schnellen Leuten genauso schlapp gelacht wie die Italiener, wenn Deutschland nicht die Abwehr gestärkt und sicher in einer Dreierkette gestanden hätte. Vom Fernsehsessel aus ist immer einfach zu diskutieren, dass eine Mannschaft mit Hurra stürmen soll. Mal schnell ein paar Anweisungen ins Handy getippt, Facebook und Twitter sei Dank: Dann wird Deutschland Europameister? Nein, auf dem Rasen sind die Dinge etwas komplexer.

Man hätte Löw womöglich Vorwürfe machen können, wenn der Gegner seine Mannschaft dominierte hätte wie Italien vor vier Jahren im EM-Halbfinale. Hat Frankreich aber nicht. Deutschland hatte zeitweise an die 70 Prozent Ballbesitz. Was nicht gelungen ist: den Abwehrriegel zu knacken und in der Druckphase der ersten Halbzeit zwei Tore vorzulegen. Müller war außer Form. Es fehlte halt Gomez vorne. Oder Götze in der Verfassung von vor zwei Jahren. Deutschland hat ein Stürmerproblem.

Die Diskussion wird in eine andere Richtung laufen. Die Frage wird nicht sein, ob Löw verschwinden soll. Eher ist die Frage: Ob Löw bleiben will. Der ständige Streit über seine Aufstellungen und taktischen Ausrichtungen ermüden ihn sichtbar. Er hat einen Vertrag bis 2018. Soll er sich die Mühen zwei Jahre lang ein weiteres Mal aufbürden, die Deutschen von seiner Spielidee zu überzeugen? Als Weltmeister-Trainer braucht er das nicht. Was ihn antreibt: Der erste Nationaltrainer seit 1938 zu werden, der den WM-Titel verteidigt, und die Entwicklung des deutschen Fußballs zur Vollendung zu führen. Löw darf nicht aufhören. Den Vertrag verlängern? Dafür nicht notwendig. Aber im Moment gibt es keinen deutschen Trainer, nicht Thomas Tuchel, nicht Jürgen Klopp, nicht sonstwer, der seine Arbeit annähernd gleich gut fortsetzen könnte.

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