Fortaleza. José Pekerman kann heute auf dem südafrikanischen Kontinent Geschichte schreiben, wenn Kolumbien den Gastgeber Brasilien stürzt – das wäre auch eine späte Bewältigung der eigenen Vergangenheit. Nicht nur Nationalmannschafts-Ikone Carlos Valderrama schwärmt vom “Superman“.
Es hat damals an diesem flirrend heißen letzten Juni-Tag 2006 lange gedauert, bis José Néstor Pekerman zum Verhör erschien. In einem klimatisierten Unterschlupf des Berliner Olympiastadions, irgendwo in dem Wirrwarr aus Gängen und Räumen, zürnten die argentinischen Journalisten ungeduldig; während die deutsche Gefolgschaft noch die Gedanken ordnete, ob nun das Elfmeterschießen oder die folgende Keilerei auf dem Rasen den Kern der Berichterstattung vom WM-Viertelfinale einnehmen sollte. Dann erschien der Schuldige. So wie man sich einen Verlierer vorstellt: Die Stirn faltig, das Gesicht blass, die Hände zittrig.
Der Nationaltrainer tat das, was die Meute erwartete. Lud die Verantwortung umgehend auf seine Schultern und erklärte seinen sofortigen Rücktritt. Hatte er nicht zuvor ausgerufen: „Wir kommen um zu gewinnen.“ Nun hatte Argentinien verloren. Weil er erst Juan Riquelme, seinen Spielmacher, dann Hernan Crespo seinen Angreifer, auswechselte, und, das schien am schlimmsten, Lionel Messi, das Supertalent nicht einwechselte? Da saß nun der Sündenbock, dessen Haar grau schimmerte. Pekerman sollte bald 57 Jahre alt werden. Kaum vorstellbar, dass so einer noch einmal auf dieser Bühne auftaucht. Dachte jeder vor acht Jahren, der dabei war.
Tatsächlich nahm sich der in Holt Ibucy 80 Kilometer nordwestlich von Buenos Aires in einfachen Verhältnissen aufgewachsene Fußballlehrer eine Auszeit von über einem Jahr. Ging nach Mexiko, machte erneut eine Pause, versuchte es ein zweites Mal bei einem mexikanischen Erstligisten, wurde wieder entlassen. Jetzt war er schon über 60. Doch dann fühlte Anfang 2012 ein kolumbianischer Verbandsfunktionär vor, ob er sich vorstellen könnte, die „Cafeteros“ zu übernehmen. Man habe drei WM-Turniere in Folge verfehlt; er wisse doch, wie man sich qualifiziert. Der Gentleman, dessen Großeltern einst aus der Ukraine eingewandert waren, überlegte.
Er hatte zwar Mitte der 70er Jahre bei Deportivo Independiente Medellin gespielt, aber sollte er das wagen? Seine ältere Tochter Vanessa, die 1975 in Medellin geboren wurde, riet ihm: „Papa, mach‘ das!“ Und er ging an die Arbeit, obwohl die Liste der veröffentlichten Vorwürfe sich nur mit Siegen widerlegen ließ. Pekerman? Zu alt und zu teuer, zu leise und zu verschlossen, hieß es.
Ikone Valderrama schwärmt vom "Superman"
Von wegen. Der Neue hauchte einer maroden Mannschaft sofort Leben ein. Er verfolgte eine Strategie und suchte dafür die Spieler aus. Kolumbien nahm die Qualifikationshürde, der Argentinier wurde „Südamerikas Trainer des Jahres“. Und jetzt in Brasilien nur „Superman“ genannt, weil sein Auswahl in der Vorrunde ein Trendsetter war. Der Volksheld Carlos Valderrama stellte fest: „Pekerman hat die Identität des kolumbianischen Fußballs wieder hergestellt.“
Als der Coach jüngst nach dem Achtelfinale gegen Uruguay (2:0) einen Handkuss auf die Tribüne zu seiner Ehefrau Matilde warf, stand in den Gazetten, die Geste zeige sein großes Herz. Er verbreite „pure Magie“. Und: „Pekerman muss scheinbar nur mit den Fingern schnippen und dabei kommen Tore, Triumphe, Huldigungen, Beifallsstürme, Jubel und Emotionen heraus.“
Der Überschwang erklärt sich durch ein nationales Ereignis: Kolumbien fordert Brasilien im Viertelfinale von Fortaleza (Freitag 22 Uhr MESZ) heraus. Es gibt nicht wenige, die trauen Pekermans unerschrockenem Trupp mit dem dreisten James Rodriguez im Brutofen des Estadio Castelao alles zu. Erst recht die Sensation. Aber der 64-Jährige hält den Ball flach. „Wir werden Brasilien immer respektieren, weil es ein großartiges Team ist. Wir gehen zwar durch eine gute Phase, aber sie haben die Fähigkeit, uns Sorgen zu bereiten.“ Dabei bangen viele um den Gastgeber, dass es genau umgekehrt sein könnte.
Was ist das Geheimnis eines Mannes, der so herrlich zurückhaltend bleiben kann. „Ihm ist es gelungen, die Gemeinschaft über den Einzelnen zu stellen“, sagt Ersatzkeeper Camilo Vargas. Nach Fortaleza, wo es selbst abends noch locker 25 Grad hat, sind die Kolumbianer einen Tag früher aufgebrochen, um sich besser zu akklimatisieren, aber ihre Botschaften klingen weder hitzig, noch übermütig, geschweige denn reißerisch. Auch das ist ein Verdienst Pekermans, dem Kolumbiens Staatspräsident Juan Manuel Santos persönlich bittet, die Staatsbürgerschaft seiner Wahlheimat anzunehmen.
Das Erstaunliche: Heute drücken ihm sogar viele seiner argentinischen Landsleute aufrichtig die Daumen. Die Seleção raus, die „Albiceleste“ weiter – das wäre doch ein herrliche Konstellation. Aber warum sollte für die Südamerikaner im Halbfinale schon Schluss sein? Man könnte sich am 13. Juli in Rio de Janeiro zum Finale treffen. Pekerman würde dann dort noch einmal Auge in Auge mit denjenigen in einer Pressekonferenz sitzen, die ihn einst in Berlin zum Teufel gewünscht haben. Eine erneute argentinische Niederlage würde er sicher nicht bedauern. Auch wenn es wieder seine Schuld wäre.