Bordeaux/Évian-les-Bains. Historischer Sieg gegen Italien wurde teuer bezahlt: EM-Aus für Gomez und Gelbsperre für Hummels. Khedira und Schweinsteiger sind schwer angeschlagen. Und Scholl tritt unnötige Taktik-Diskussion los.
Die Freude über den historischen Sieg gegen Italien dauerte nur wenige Stunden. Dann meldeten sich die DFB-Ärzte mit ihren Diagnosen zu den Nationalspielern, die angeschlagen aus der Schlacht von Bordeaux zurückgekehrt waren. Die Kernspintomographie ergab Schockierendes.
Bei Mario Gomez Muskelfaserriss im rechten Oberschenkel hinten – das EM-Aus perfekt.
Bei Sami Khedira Adduktorenverletzung am linken Oberschenkel – das EM-Aus droht.
Bei Bastian Schweinsteiger Schlag auf die Innenseite des rechten Knies – das EM-Aus droht.
Mit Hochdruck arbeitet die medizinische Abteilung an der Genesung der Stammspieler. Donnerstag wird das EM-Halbfinale in Marseille ausgetragen. Bundestrainer Joachim Löw hilft nur noch Beten: „Es ist sehr bitter, wenn in der entscheidenden Phase des Turniers wichtige Spieler ausfallen. Besonders für Mario tut es mir leid.“ Löw hat für den Triumph beim 7:6 n.E. im Viertelfinale gegen Italien teuer bezahlen müssen. Und wieder muss er seine Mannschaft umbauen.
„Für uns heißt das, dass wir die neue Situation annehmen und Lösungen finden müssen – und das werden wir“, erklärte Löw kämpferisch. „Die Qualität des Kaders ist hoch, ich habe volles Vertrauen in alle Spieler. Wir werden am Donnerstag bereit sein und freuen uns auf das Halbfinale in Marseille.“
Was soll er auch anderes sagen?
Denn auch Mats Hummels fehlt im Halbfinale. Er kassierte seine zweite Gelbe Karte im Turnier und muss ein Spiel pausieren. Vermutlich wird ihn Benedikt Höwedes in der Innenverteidigung ersetzen.
Immerhin: Mit Drucksituationen geht Löw inzwischen kaltherzig um. „Aus Erfahrung cool“ beschrieb ihn die Süddeutsche Zeitung. Was das heißt, konnte man Samstag sehen.
Seine Mannschaft war soeben ins EM-Halbfinale eingezogen, hatte auf dem Weg nicht irgendwen, sondern den besonders gefürchteten Gegner Italien erstmals bei einem großen Turnier bezwungen, ein historischer Sieg, und das auch noch überaus dramatisch in einem Elfmeterschießen voller großer Gefühle.
Löw untypisch schmallippig
7:6 lautete das Endergebnis nach Zählung aller Tore, aber Löw war schon kurz nach dem Abpfiff bekannt geworden, dass das nicht so recht gereicht hatte. Es sei ja schon „viel diskutiert“ worden, sagte Löw untypisch schmallippig.
Auf die Frage, ob es Mut gekostet habe, seine so erfolgreiche und gegentorlose Abwehrkette signifikant umzubauen, sagte er ernst: „Es war dringend notwendig.“
Schon einmal hatte er unter der Berücksichtigung italienischer Stärken seine Mannschaft stark verändert, 2012 im Halbfinale der EM. Seine schmerzhafteste Niederlage (1:2). Nun hatte er es wieder getan. Das allein genügte für einen beeindruckenden Furor in Teilen der Nation. Fußball-Deutschland ist tief gespalten: Ist Löw nun endgültig dem Wahnsinn anheim gefallen, oder war die Dreierkette ein genialer, siegbringender Schachzug?
Mehmet Scholls Standpunkt zu dieser Sache ist recht eindeutig: Der Fernseh-Experte marodierte live auf Sendung durch die schöne deutsche EM-Kulisse. In seinem Visier: Löw, aber noch mehr der deutsche Chefscout Urs Siegenthaler, der die Gegner stets eingehend vorab studiert und seine vielschichtige Expertise als Entscheidungshilfe an den Bundestrainer weitergibt. Scholl grantelte: „Joachim Löw wacht doch nicht nachts auf und denkt: Dreierkette, Dreierkette, Dreierkette. 2008 haben wir uns Spanien angepasst – und sind rausgeflogen. 2010 haben wir uns Spanien angepasst – auch rausgeflogen. 2012 haben wir uns Italien angepasst – wieder raus. Urs Siegenthaler soll seinen Job machen – und morgen liegen bleiben.“
Der Europameister von 1996 brach einen erstaunlichen, wohl typisch deutschen Streit vom Jägerzaun. „Es hat 30, 40 Minuten gedauert, bis wir Vertrauen und das Spiel begriffen haben. Danach war es okay, aber eben kein Offensivfeuerwerk.“ Mit der bislang im Turnier bewährten Aufstellung hätte man die Italiener auch bezwungen, befand Scholl, der als Drittliga-Trainer bei Bayern gearbeitet hat.
Wie das Spiel nun ausgegangen wäre, lässt sich schwerlich nachvollziehen. Löw hatte seine Gründe für die Rochade – und sie stand früh fest. „Für mich war das nach dem Spiel Spanien gegen Italien im Achtelfinale klar. Das war mein erster Gedanke.“ Italiens Besonderheit: die zwei Spitzen. Die Dreierkette, die defensiv zur Fünferkette wird, sorgte stets dafür, dass Deutschland ausreichend Verteidiger zur Stelle hatte. „Die Italiener sind gefährlich, wenn sie durch die Mitte in die Tiefe spielen“, sagte Löw, „das machen sie gut, aber es ist leicht berechenbar.“
Er sagt das so leicht, wie er sich den Fortgang des Abends gewünscht hätte. Der Bundestrainer hatte es doch eigentlich allen gezeigt, hatte nicht nur endlich Italien geschlagen und 2012 wieder gutgemacht, sondern auch noch seine eigenen Ansprüche erfüllt: die Entwicklung der Mannschaft. „Nach der WM war klar, dass wir unser Repertoire erweitern müssen, weil wir sonst zu ausrechenbar sind.“
Dreierkette mehrfach getestet
Er hatte die Dreierkette seitdem oft proben lassen, mit dem Masterplan, sie im entscheidenden Moment anwenden zu können. Entschieden wurde das Duell letztlich im Glücksspiel Elfmeterschießen, aber die Dreierkette hatte 120 Minuten lang die Kontrolle über das Geschehen. Anders als 2012, als Löws Idee eines Sonderbewachers für Andrea Pirlo wie aus dem Nichts kam und krachend scheiterte.
„Das war eine gute Umstellung“, lobte Verteidiger Benedikt Höwedes die Dreierkette, in der er ein gut funktionierendes Mitglied war.
Thomas Müller sprang dem von Scholl kritisierten Siegenthaler nach dem Abpfiff zur Seite: „Er filetiert die Gegner, bereitet dem Trainer mit einer guten Analyse alles vor.“ Und Löw selbst scheint in der Bewertung der Mannschaft längst über jeden Zweifel erhaben zu sein. Er entscheidet, aber er horcht auch auf die Meinung seiner wichtigsten Spieler. Und die werden ihm helfen, mit dem Verletzungspech umzugehen. Beweistermin: am Donnerstag,