Essen. An diesem Samstag hätte Olympia in Tokio begonnen. Doch die Spiele wurden verschoben. Dirk Schimmelpfennig erklärt, was ihm Mut macht.
Eine größere Herausforderung als die Corona-Pandemie hat Dirk Schimmelpfennig in seinem Amt als Vorstand Leistungssport im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), das er seit März 2015 innehat, noch nicht bestehen müssen. Aber ein Jahr vor dem Start der verschobenen Sommerspiele in Japans Hauptstadt Tokio versucht der 58-Jährige Optimismus vorzuleben.
Herr Schimmelpfennig, an diesem Samstag hätten in Tokio die sportlichen Wettkämpfe der 32. Olympischen Sommerspiele der Neuzeit begonnen. Haben Sie und die deutschen Spitzenathletinnen und -athleten den Schock der Verschiebung mittlerweile überwunden?
Dirk Schimmelpfennig: Wenn der Moment kommt, an dem die Spiele begonnen hätten, wird es alle, die genau darauf hingearbeitet haben in den vergangenen Jahren, sicherlich noch einmal schmerzen. Auch wenn wir alle vier Monate nach der Entscheidung zur Verschiebung schon eine gewisse Distanz zu den Spielen im Jahr 2020 haben, ist der Einschnitt trotzdem enorm, und die Folgen beschäftigen uns weiterhin sehr intensiv.
Wie ist denn aktuell die Stimmungslage im Team Deutschland? Welche Sorgen treiben die Aktiven um?
Es war sehr wichtig, dass das Internationale Olympische Komitee nach intensiven Überlegungen die Entscheidung letztendlich dann gefällt hat. Die Ungewissheit hatte alle Beteiligten doch sehr belastet. Seit der festgelegten Verschiebung gibt es in diesem Jahr mehr Planungssicherheit. Die Athletinnen und Athleten haben in großer Mehrheit sehr verständnisvoll reagiert und sind ihrer Verantwortung natürlich gerecht geworden, sich an den notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu beteiligen. Und die meisten sind dankbar dafür, dass sie schrittweise, aber doch recht zügig wieder in einen geregelten Trainingsbetrieb zurückkehren konnten. Sie haben die Zeit des eingeschränkten Trainingsbetriebs genutzt, um etwas zu regenerieren, sich vor allem aber athletisch und technisch weiterzuentwickeln.
Wettkämpfe sind jedoch weiterhin nur sehr vermindert möglich. Was tut der DOSB, um seine Spitzenkräfte bei Laune zu halten?
Tatsächlich fehlt der sportliche Vergleich und die Rückmeldung über den aktuellen Leistungsstand. Der Wettkampf ist nun einmal für die allermeisten unserer Sportlerinnen und Sportler das Salz in der Suppe. Wir hoffen deshalb sehr, dass von September an zumindest national flächendeckend in allen Sportarten wieder ein Wettkampfbetrieb möglich ist. Wir versuchen, die Vereine und Fachverbände in ihren Planungen dabei bestmöglich zu unterstützen. Die internationalen Verbände arbeiten derzeit am internationalen Wettkampfkalender. Dieser würde dann natürlich auch Einfluss auf die Termine der nationalen Wettkämpfe für unsere Spitzensportler haben. Nach der Verschiebung der Spiele und der weltweiten Auswirkungen der Corona-Krise, die sich ständig verändern, stellt dies eine riesige Herausforderung dar. Diese Prozesse beanspruchen unter der ständigen Beobachtung aller Entwicklungen natürlich Zeit.
Die geplante Leistungssportreform ist von der Verschiebung der Spiele ebenfalls betroffen, weil der Parameter Erfolg erst in Tokio ermittelt werden kann. Ein Rückschlag?
Natürlich hätten wir die ursprüngliche Planung mit Spielen in diesem Sommer favorisiert. Der Zyklus bis Paris 2024 ist nun um ein Jahr verkürzt, so dass die Effekte der Reform möglicherweise nicht in der geplanten Form zum Tragen kommen können. Der Wegfall diverser Verpflichtungen in diesem Jahr verschafft uns aber nun die Möglichkeit, dies zu nutzen, um die Reform in einigen Themenfeldern voranzutreiben. Das tun wir sehr zielgerichtet.
Teilen Sie den Eindruck, dass auch in Tokio sehr zielgerichtet an der Verlegung gearbeitet wird?
Auf jeden Fall. Ich war Ende 2019 in Tokio und konnte mich vom damaligen Stand der Vorbereitungen überzeugen. Der war exzellent. Die Japaner brauchten nach der Verschiebung der Spiele natürlich Zeit, um sich neu zu orientieren, aber jetzt sind alle Wettkampfstätten und auch das Olympische Dorf für 2021 gesichert. Wir sind mit dem Organisationskomitee in engem Austausch, und im Oktober ist ein sehr umfangreiches Informations-Webinar geplant.
Der Verein Athleten Deutschland hat das IOC aufgefordert, die Sportlerinnen und Sportler stärker in Entscheidungsprozesse einzubinden und mehr zu kommunizieren. Gehen Sie als DOSB da mit gutem Beispiel voran?
Ich denke schon. Wir haben eine sehr intensive Kommunikation mit unseren Mitgliedern der Athletenkommission und den Aktiven des Team D geführt. Es gab für sie vor der Verschiebung mittels eines Athletentalks die Möglichkeit, mit unserem Präsidenten Alfons Hörmann und mir in Kontakt zu treten, um Fragen zu stellen. Zudem haben wir zu zentralen Fragen die Meinungen der Athletinnen und Athleten in einer Online-Umfrage eingeholt. Auch im nächsten Jahr wollen wir die Sportlerinnen und Sportler wieder einbeziehen, um bei unseren Entscheidungen ihr Meinungsbild berücksichtigen zu können.
Der überwiegende Teil des deutschen Olympiateams kann vom Sport allein kaum leben und treibt parallel eine Berufsausbildung voran. Wie einschneidend hat die Pandemie das Thema duale Karriere beeinflusst?
Fraglos ist dieses Thema für viele Mitglieder unseres Teams ein entscheidendes. Viele Studierende hatten für dieses Jahr Urlaubssemester geplant und für 2021 eine Intensivierung des Studiums. Andere hatten ihre Ausbildung und den Einstieg in einen Beruf vorgesehen. Dank der Flexibilität unserer wichtigsten Sportförderer wie der Bundeswehr und der Bundes- und Landespolizei sowie der Unterstützung der Laufbahnberaterinnen und -berater an den Olympiastützpunkten ist es in vielen Fällen gelungen, zufriedenstellende Lösungen zu finden.
Die in den Wochen nach der Verlegung der Spiele geäußerten Befürchtungen, die Pandemie könnte einige zum Karriere-Ende zwingen, sind also bislang nicht eingetreten?
Die meisten Athletinnen und Athleten haben sich bereits entschieden, das Jahr bis zu den Spielen 2021 nun auch noch durchzuziehen. Im Moment der Absage und der Neuorientierung waren diese Befürchtungen natürlich gegeben, aber dank der Planungssicherheit, die es rechtzeitig gab, der leidenschaftlichen Motivation unserer Leistungssportler und der enormen Unterstützung ihres persönlichen Umfeldes sind sie zum Glück nicht in der Form eingetroffen wie befürchtet.
Planungssicherheit ist indes relativ. Niemand weiß, ob die Spiele 2021 durchgeführt werden können. Was, wenn sie komplett abgesagt werden?
Die Enttäuschung wäre ungleich größer, als sie es im März schon war, keine Frage. Einige Sportler besprechen ihre aktuelle Situation und alle denkbaren zukünftigen Szenarien bereits in Gesprächen mit ihren Sportpsychologen in den Spitzenverbänden und an den Olympiastützpunkten. Wir konzentrieren uns alle unter Berücksichtigung aller denkbaren Entwicklungen verstärkt auf das, was wir beeinflussen können. So bereiten wir uns professionell auf die Spiele 2021 in Tokio vor. Dies sowohl sportlich als auch mental und organisatorisch.
Stören Sie die vielen Umfragen dieser Tage, die die negative Stimmung rund um die Tokio-Spiele transportieren? Ist so etwas zielführend?
Es ist ein Thema, das die Menschen interessiert und das deshalb in den Medien aufgegriffen wird. Damit müssen wir umgehen. Fakt ist aber, dass niemand sagen kann, wie das Pandemie-Geschehen in ein paar Monaten aussieht, wenn die Qualifikationswettkämpfe starten müssen. Deshalb hilft jetzt nur, zuversichtlich zu bleiben und das zu tun, was man selbst in der Hand hat.
Ohne einen Impfstoff, der die Pandemie beherrschbar macht, wird eine Austragung unmöglich sein. Aber schon der Blick auf die unterschiedlichen Lagen in der Welt, auf die Reisebeschränkungen, lässt Zweifel daran aufkommen, wie ein fairer Wettbewerb in ein paar Monaten möglich sein soll. Verklären wir aus dem vergleichsweise sicheren Deutschland die Lage?
Unser Blickwinkel aus Deutschland, aber auch Europa ist natürlich ein anderer als der in vielen anderen Teilen der Welt. Aber wir sehen schon, dass es aktuell sehr unterschiedliche Grundlagen gibt, auf denen Vorbereitung und Wettkämpfe stattfinden könnten. Mit den unterschiedlichen Voraussetzungen für alle Teilnehmenden in dieser speziellen Zeit wird ein fairer Wettbewerb mit gleichen Chancen sicher noch etwas schwieriger als bisher.
Was uns zum Thema Doping führt. Viele deutsche Athleten befürchten angesichts des Zusammenbruchs der Kontrollsysteme in vielen Ländern, die schon vor Corona nicht funktionierten, noch mehr Manipulationsversuche. Kann man diese Sorgen lindern?
Sie haben recht, dass es diese Befürchtungen gibt. Es kann sein, dass einige Athletinnen und Athleten die neuen Lücken, die Corona gerissen hat, ausnutzen. Wir können nur darauf vertrauen, dass das Kontrollsystem rechtzeitig vor den Spielen wieder weltweit greift.
IOC-Präsident Thomas Bach hat Olympische Spiele ohne Zuschauer ausgeschlossen. Aber wäre diese Option nicht besser für die Athleten, als gar nicht anzutreten? Und hätte sie nicht auch den Charme einer Rückbesinnung auf das, was Olympische Spiele ursprünglich ausmachen sollte – den Sport und nicht die Show?
Natürlich gibt es eine Reihe Athleten, die sich in letzter Konsequenz auch Spiele ohne Zuschauer vorstellen können. Die Mehrheit möchte zu den Spielen antreten, weil ihnen der Wettkampf das Wichtigste ist, und deshalb hoffen sie auf eine Lösung, die ihnen das ermöglicht. Aber letztlich wünscht sich jeder auch die Zuschauerkulisse, möglichst in vollen Stadien. Ich glaube, wir müssen schrittweise den Weg zurück in die Normalität suchen. In Deutschland wurden bereits sehr gute Konzepte präsentiert, wie das auch mit Zuschauern gelingen kann, zum Beispiel im Tennis. Wir müssen flexibel sein und schauen, was zu welchem Zeitpunkt umsetzbar ist.
Was ist denn, ganz persönlich betrachtet, Ihre größte Sorge?
Die hat sogar weniger mit Olympia zu tun. Die größte Sorge bereitet mir generell die Sportstruktur in Deutschland. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, dass unsere Athleten und Trainer, aber auch unsere Vereine und Fachverbände in ihrer bewährten Struktur die Krise dauerhaft und nachhaltig überstehen, denn das ist die Grundlage für alles. Und da haben wir noch viel Arbeit vor uns.