New York. Alexander Zverev griff nach der Grand-Slam-Trophäe. Von Krämpfen geplagt ringt der Österreicher Dominic Thiem ihn nieder. Ein episches Finale.

Es ging schon auf Mitternacht zu in New York, als Alexander Zverev am Sonntag zu seinem allerletzten US-Open-Termin erschien. Zverev saß in einem TV-Studio, er sah sehr müde aus , sein Blick war leer, ausdruckslos. Viel hatte der Verlierer des großen Finaldramas nicht mehr zu sagen. „Ich muss damit leben“, sagte Zverev, „aber es ist schon sehr bitter. Ich war so dicht am Sieg dran.“ Trost könne ihm im Moment gar nichts spenden, deshalb habe er sein Handy auch noch nicht eingeschaltet: „Die ganzen Tut-mir-Leid-Nachrichten wollte ich noch nicht lesen.“

Es war ganz einfach so brutal wie immer: Am Ende eines zweiwöchigen Grand-Slam-Spektakels gibt es genau einen Gewinner, einen Champion. Und es gibt 127 Verlierer, und der, der als Letzter verliert, ist am schlimmsten dran. Vor allem, wenn er so verliert wie Zverev. Wenn er wieder und wieder und wieder den Sieg vor Augen hat, den größten Moment seines Lebens – und wenn er dann doch zusehen muss, wie sein Gegner den Pokal in die Höhe stemmt.

Tennis-Kanzler Becker ist fasziniert vom Match der Superlative

An Lob, Anerkennung, Sympathie, Trost und Zuspruch war kein Mangel für Zverev, nach dem beinahe unglaublichen 6:2, 6:4, 4:6, 3:6, 6:7 (6:8)-Scheitern gegen seinen Freund Dominic Thiem – und doch war da eben die große Frage, wie Zverev diesen Knockout, wie er diese traumatische Erfahrung wegstecke.

Der Österreicher Dominic Thiem stemmt nach dem denkwürdigen Finale der US Open die Grand-Slam-Trophäe in die Höhe. Alexander Zverev muss zuschauen.
Der Österreicher Dominic Thiem stemmt nach dem denkwürdigen Finale der US Open die Grand-Slam-Trophäe in die Höhe. Alexander Zverev muss zuschauen. © AFP | Matthew Stockman


Hinter dem 23 Jahre alten Riesen lag ein Match, ein Showdown der Superlative, den man so schnell nicht vergessen wird. Tausende Spiele habe er schon gesehen, sagte Ende des fünften Aktes aus einem Fernsehstudio der Tennis-Kanzler Boris Becker, „aber so was habe ich noch nie erlebt.“

Zverev hatte, nüchtern betrachtet, nach einer 2:0-Satzführung noch das erste Grand-Slam-Endspiel seiner Laufbahn verloren. Aber was sich in diesen vier Stunden und einer Minute im größten Tennisstadion der Welt ereignete, war mehr – ein Zweikampf mit unglaublicher Wucht, Intensität und Leidenschaft. Ein Duell, das an einen Schwergewichts-Boxkampf erinnerte, mit zwei umhertaumelnden Fightern, die immer noch um jeden Punkt rangen, als sie sich kaum noch auf zwei Beinen halten konnten. „Zwei Gladiatoren“ habe er gesehen, so Becker, „die Werbung für den Tennissport machten.“

Noch einmal hatte Zverev die Tür zum Tennis-Paradies aufgestoßen

Zverev hatte alle Trümpfe in der Hand, er hätte auch gut und gerne in drei klaren Sätzen als überraschend sicherer Triumphator vom Feld gehen können. Aber er ließ Thiem zurück ins Spiel, der glich zum 2:2 nach Sätzen aus. Zverev hatte noch einmal beinahe die Tür ins Tennis-Paradies aufgestoßen. Er nahm Thiem den Aufschlag zum 5:3 im fünften Satz ab, schlug zum Titelgewinn auf – und kassierte das 5:4. Im nächsten Aufschlagspiel von Thiem war er bei 0:30 nur noch zwei Punkte vom Pokal weg, und wieder rettete sich der Österreicher.

Es ging weiter und weiter in dieser Tennis-Schlacht. Alles war möglich, nichts unmöglich. Thiem schaffte das Break zum 6:5, Zverev das Rebreak zum 6:6. Entscheiden musste der Tiebreak, jenes unbarmherzige Glücksspiel, diese grausame und ebenso herrliche Verdichtung des Dramas. Zverev führte 2:0, er vergab den Vorsprung, lag 3:5 und 4:6 hinten, hatte zwei Matchbälle gegen sich. Wehrte sie ab, schaffte das 6:6.

Tränen und Dank an die Eltern

Und dann, nach vier Wochen in der New Yorker Tennis-Blase, nach gespielten drei Stunden und 59 Minuten im Endspiel, entschieden die nächsten beiden Punkte für Thiem diese titanische Aufführung. Der Österreicher sank der Länge nach hin, Zverev schritt hinüber zu ihm, die beiden Freunde umarmten sich.

Von Krämpfen geplagt und mit letzter Kraft siegte Dominic Thiem nach vier Stunden im Tiebreak. Dann sank er der Länge nach hin.
Von Krämpfen geplagt und mit letzter Kraft siegte Dominic Thiem nach vier Stunden im Tiebreak. Dann sank er der Länge nach hin. © AFP | Al Bello


Bei der Siegerehrung brachen die versteckten Gefühle bei Zverev heraus. Zum ersten Mal seit den Karriereanfängen waren weder Mutter Irina noch Vater Alexander und Bruder Mischa dabei gewesen – nun dachte Zverev sofort an die Familie. Alles habe er den Eltern zu verdanken, sagte Zverev, „sie waren immer bei mir, waren immer für mich da. Sie konnten aber nicht kommen, beide waren positiv auf Corona getestet.“ Zweimal versagte Zverev die Stimme, die Tränen flossen. Dann sagte er einfach nur noch in Richtung der Eltern: „Danke.“